Der Vater der "Weihnacht" wohnt im Haus Nummer 7, Straße 27 in Bagdads Stadtviertel Karrada. Abu Milad ist klein, hager und hat nichts von einem Weihnachtsmann. Er trägt keinen Bart, ist wendig und erzählt ununterbrochen. Im ganzen Viertel kennt man ihn unter diesem Namen. Der einzige Sohn des 66-jährigen Irakers ist nach Kanada ausgewandert. Seine vier Töchter ebenfalls. Und auch die Frau ist über den großen Teich gezogen. Abu Milad ist in Bagdad zurückgeblieben. Nun wird es immer einsamer um ihn. "Erst gingen die Juden, jetzt gehen die Christen." Milad (Weihnacht) heißen viele der geschätzten drei Prozent Chaldäer, Assyrer, Baptisten und Orthodoxen, die derzeit noch im Zweistromland leben. Seit dem Fall des Saddam-Regimes vor knapp drei Jahren verlassen sie scharenweise das Land. Bis zu einer Million sollen es bislang sein, und fast täglich werden es mehr. Viele haben Ausreiseanträge nach Nordamerika gestellt. Diejenigen, die auf die Genehmigung warten, legen zuweilen eine Zwischenstation in der jordanischen Hauptstadt Amman ein, bis der ersehnte Bescheid erfolgt. Das kann zwischen drei und fünf Jahren dauern und kostet etliche tausend Dollar.
"Wenn es so weitergeht, bin ich hier bald alleine", klagt Abu Milad wehmütig. Immer mehr Christen verkaufen ihre Häuser in seinem Viertel. Genau so, wie es die Juden von 1948 an getan haben, als der erste Palästina-Krieg begann und sie fluchtartig den Irak verließen. Bis in die 60er-Jahre wohnten noch jüdische Familien in Karrada, bis zum Sechs-Tage-Krieg. Danach wurde es unerträglich, der Druck der arabischen Bevölkerung auf die Juden nahm zu. Nur noch fünf jüdische Familien sind in Karrada geblieben. "Doch die halten sich versteckt", weiß Abu Milad. Die Israelfeindlichkeit unter den Irakern ist ungebrochen. Seitdem Saddam sich eindeutig auf die Seite der Palästinenser gestellt und Israel 1981 die Atomanlage Osirak nördlich von Bagdad bombardiert hatte, machen viele Iraker auch die Juden mitverantwortlich für ihre derzeitige Misere. Je stärker Chaos und Anarchie um sich greifen, desto mehr verstärkt sich die Meinung, dass hinter der Invasion der ausländischen Truppen zionis- tische Expansionsgelüste stecken.
Als Abu Milad 1966 nach Karrada zog, waren Muslime noch in der Minderheit in dem Geschäftsviertel am Ostufer des Tigris. Sie arbeiteten als Hausangestellte, verrichteten Dienstleistungen. Dass Karrada christlich geprägt war, gab für den im Dorf Ain Kawa in der Nähe der nordirakischen Stadt Arbil geborenen Chaldäer den Ausschlag, mit seiner noch jungen Familie in das Haus zu ziehen, das ein jüdisches Ehepaar gerade in Richtung Amerika verließ. Noch heute zahlt Abu Milad die Miete auf deren Konto. Durch die Landflucht, die auch im Irak Anfang der 70er-Jahre einsetzte, kamen vor allem Schiiten aus dem Süden nach Karrada. Nicht alle wollten nach Thawrah, dem gerade neu entstehenden Schiitenviertel im Nordosten, das später Saddam-City und heute Sadr-City heißt. So mischte sich die Bevölkerung Karradas.
Genau dieses Miteinander fasziniert Balsam Pedro noch immer. Vor 45 Jahren wurde sie in Karrada Charidsch, dem östlichen Teil des Viertels, geboren. Auch Balsam ist Christin, ihr Nachbar Schiit. Seit einem Jahr ist er Bürgermeister, seitdem es einen Stadtrat und Ansätze von kommunaler Selbstverwaltung gibt. Um 1500 sei der Stadtteil entstanden, weiß Mohamad al-Rubeiy, als Agrarland für die Hauptstadt. Links und rechts umgeben von den Wassern des Tigris, war die Halbinsel lange Zeit die grüne Lunge Bagdads. Später zog es Handwerker und Händler hierher, eine Bierbrauerei wurde gebaut. An der Uferstraße Abu Nawas in Karrada Dakhl, dem westlichen Teil, tobte das Leben. Sie wurde zur Vergnügungsmeile für die Hauptstädter. Der Bürgermeister gerät ins Schwärmen, wenn er von vergangenen Zeiten spricht.
Heute ist die Straße nach 20 Uhr menschenleer, die Restaurants und Cafés sind geschlossen. Viele Häuser sind mit Stacheldraht gesichert. Die Wachen vor dem Hauptquartier der Kommunistischen Partei schießen auf alles, was dem Gebäude zu nahe kommt. Manchmal muss sogar ein am Tigrisufer streunender Hund sich vor einer Gewehrsalve in Acht nehmen. Trotzdem sollen in Karrada angeblich weniger Bomben gezündet werden, als in anderen Stadtvierteln, versucht Mohamad al-Rubeiy für seinen Bezirk zu werben. Doch an der schiitischen Moschee Husseiniet Abdurasul in der beliebten Einkaufsstraße werden gerade die Schäden repariert, die ein Bombenanschlag vergangenes Jahr im Sommer verursacht hat. Und vor zweien der über 20 Kirchen Karradas explodierten Ende Januar nunmehr zum dritten Mal Autobomben. Auch Mörsergranaten, die regelmäßig auf das gegenüber liegende Flussufer Richtung amerikanische Botschaft abgeschossen werden, verfehlen zuweilen ihr Ziel und schlagen auf den Dächern der Häuser in Karrada ein.
Der Bürgermeister ist besorgt über den Wegzug vieler Bürger aus seinem Viertel, wenngleich er zu bedenken gibt, dass nicht nur Christen den Irak verlassen. "Alle, die derzeit ein geregeltes Einkommen haben, sind potenzielle Angriffsziele für Kriminelle, werden bedroht, gekidnappt, ausgeraubt." Al-Rubeiy ist 41 Jahre alt und hat zehn Jahre lang in Rumänien gelebt, kennt die Gefahren der Transformation von einer Diktatur in eine freie Gesellschaft. Auch dort hätten sich nach der Wende erst einmal mafiöse Strukturen entwickelt, Anarchie und Chaos geherrscht. Das Land sei auch 15 Jahre nach dem Ende der Gewaltherrschaft Ceaucescus noch nicht in Ordnung. In Karrada hätten jetzt alle Bewohner einen gemeinsamen Feind und würden näher zusammenrücken, resümiert der Bürgermeister die Folgen der Post-Saddam-Ära.
Abu Milad sieht das anders. Er spricht von zunehmenden Spannungen zwischen Schiiten und Christen im Viertel. Er sagt bewusst ,Schiiten' und rümpft die Nase, wenn er von den Händlern spricht, die "wie Heuschrecken aus Sadr-City hier einfallen und ihre billigen Waren verkaufen". Die Sunniten seien stabiler, meint er. Saddam hätte ja auch fünf christliche Minister berufen. Welche Kriterien im orientierungslosen Vakuum des neuen Iraks zur Meinungsbildung zählen, mutet mitunter absurd an.
Wie es tatsächlich mit der Bevölkerungsstruktur des 650.000 Einwohner zählenden Stadtteils von Bagdad bestellt ist, zeigt die Besetzung des Stadtrates, der im Januar 2005 gewählt wurde. Darin sind 24 Schiiten, drei Christen und zwei Sunniten vertreten. Föderalismus und Selbstverwaltung seien zwar schöne Sachen, bilanziert der Bürgermeister die Bemühungen des Gremiums, das Viertel weiter zu entwickeln. Doch würden sie von den wenigsten verstanden. Eher mache jeder, was er wolle - unkoordiniert. Eine Stadtteilinitiative für wirtschaftliche Investitionen und Firmenansiedlungen gründete sich, mietete ein Büro und kaufte einen teuren Stand auf der Messe zum Wiederaufbau Iraks im Mai vergangenen Jahres in Amman. Die Versprechen, potenziellen Investoren, vor allem aus dem Ausland, geeignete Räume und Wachpersonal zu vermitteln, konnten nicht eingehalten werden. Es fehlte an Infrastruktur, Know-how und geeignetem Personal. Vor allem aber an Sicherheit, erste Voraussetzung für ein wirtschaftliches Engagement. Die Initiative ist bisher ohne größere Resonanz geblieben. Anfang Februar mussten sogar einige Betriebe wegen Insolvenz versteigert werden. Die Geschäfte laufen schlecht in Bagdads klassischem Handelsviertel. Besser läuft es mit dem Stadtteil-Magazin. Zwar hatten die Organisatoren geplant, die Zeitschrift monatlich herauszubringen und mit Beiträgen aus Karrada zu füllen. Geschafft wurden sechs Nummern im Jahre 2005 und einige allgemeingültige Texte, die Tageszeitungen entliehen sind. Doch der Hauptanteil der Beiträge ist tatsächlich auf das Viertel bezogen, darunter auch Aufrufe der Stadträte an die Bürger, Straftaten und Täter der Polizei zu melden.
Bürgermeister al-Rubeiy will Optimismus verbreiten, wenn er über die Zukunft Karradas spricht. Letzte Woche habe wieder ein Restaurant an der Abu Nawas aufgemacht, erklärt er stolz. Dort könne man türkischen Mokka, Tee und andere Getränke zu sich nehmen. Auch Maskouf, der am offenen Feuer gegrillte Karpfen, eine berühmte Spezialität Bagdads, werde bald wieder angeboten. Dass auch die Amerikaner sich die Wiederbelebung Karradas einiges kosten lassen, zeigte der Besuch des US-Botschafters Mitte Januar bei einer Stadtratssitzung. Zalmay Khalilzad brachte Zahlenmaterial mit: 51 Millionen Dollar hätte Wa- shington in den Distrikt investiert, das meiste (35 Millionen) in Trinkwasser- und Abwasserprojekte. Auch an Karradas ehemaliger Flaniermeile Abu Nawas ist eine nagelneue, kompakte Kläranlage entstanden - genau gegenüber der amerikanischen Botschaft am anderen Tigris-Ufer. Der Bürgermeister hofft nur, dass nicht auch sie einem fehlgeleiteten Mörserangriff zum Opfer fällt.