REDE DES FRANZÖSISCHEN STAATSPRÄSIDENTEN JACQUES CHIRAC IM BUNDESTAG
"Avantgarde-Gruppe" soll Rolle des Wegbereiters in der EU übernehmen
(eu) Der französische Staatspräsident Jacques Chirac hat sich dafür ausgesprochen, solchen Ländern in der Europäischen Union, die in der Integration weiter voranschreiten wollten, dies auf freiwilliger Basis und bei bestimmten Projekten zu ermöglichen.
Vorstellbar sei, so Chirac bei einer Rede vor dem Plenum des Bundestages am 27. Juni, dass diese Länder gemeinsam mit Frankreich und Deutschland eine "Avantgarde-Gruppe" (groupe pionnier) bildeten. Diese Gruppe solle die Rolle des Wegbereiters in der EU übernehmen und dazu beitragen, die Wirtschaftspolitiken besser zu koordinieren, die Verteidigungs- und Sicherheitspolitik der EU zu stärken und die Kriminalität effizienter zu bekämpfen.
Der französische Staatspräsident führte weiter aus, die EU sei nach Ansicht vieler Europäer zu abstrakt und kümmere sich nicht um ihre wirklichen Belange. Dazu zählten Wachstum, Beschäftigung und Ausbildung, Justiz und Sicherheit, die Bekämpfung des illegalen Drogenhandels und der Schlepperkriminalität sowie Umwelt und Gesundheit. In all diesen Bereichen gelte es bis Ende dieses Jahres während der EU-Ratspräsidentschaft seines Landes weiterzukommen. Zudem müssten die Befugnisse zwischen den verschiedenen europäischen Ebenen aufgeteilt werden, ohne diese allerdings ein für allemal festzuschreiben.
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Die "Macht Europa" braucht laut Chirac zudem "solide Institutionen und einen effizienten und legitimen Entscheidungsmechanismus". Dabei müsse das Mehrheitsvotum "seinen angemessenen Platz" haben und das jeweilige Gewicht der EU-Mitgliedstaaten spiegeln. Chirac warnte im Übrigen davor, sich am Ende der derzeit laufenden Regierungskonferenz in der EU mit einer "Einigung zum Billigtarif" zufrieden zu geben. Dies würde die Union in den kommenden Jahren lähmen.
Der französische Präsident bekräftigte ferner den Wunsch seines Landes, Deutschland solle einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen erhalten, "in Anerkennung seines Engagements, seines Ranges als Großmacht und seines internationalen Einflusses". Er würdigte zugleich die von ihm als historisch bezeichnete Entscheidung der Deutschen, sich erstmals seit über einem halben Jahrhundert bereit zu erklären, Soldaten zu einem (Kampf)einsatz ins Ausland zu entsenden. Der ethische Anspruch der Europäischen Union, sich für den Frieden und die Würde eines jeden Menschen einzusetzen, rechtfertige es, dass sich Europa unter Achtung seiner Bündnisse künftig die Mittel für eine eigene Außen- und Sicherheitspolitik gebe, so Chirac.
Der Gast aus Paris sprach sich außerdem dafür aus, die deutsch-französische Freundschaft weiter zu vertiefen "und ihr vielleicht sogar einen neuen Impuls" zu verleihen. In diesem Kontext schlug er vor, jährlich eine deutsch-französische Konferenz abzuhalten.
Zuvor hatte Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) daran erinnert, nach François Mitterrand im Jahre 1983 sei dies das zweite Mal, dass ein französischer Staatspräsident das Wort an die Abgeordneten des Bundestages richte. Der vom ganzen Parlament getragene Wunsch sei, dass die Freundschaft und die enge Partnerschaft zwischen Deutschen und Franzosen von Dauer seien. Thierse würdigte in diesem Zusammenhang auch den Einsatz Chiracs für die deutsche Vereinigung.