BUNDESTAGSPRÄSIDENT ZUM HOLOCAUST-GEDENKTAG
"Utopie eines friedlichen Europas hat Kraft entfaltet"
(bn) "Nie mehr wird der Name Auschwitz fallen, ohne Entsetzen, Trauer und Scham auszulösen. Nach dem 27. Januar 1945 wurden die Bilder aus dem befreiten Konzentrationslager zum unauslöschlichen Zeugnis einer von Deutschen in Gang gesetzten Todesmaschinerie, die erst gestoppt werden konnte, als ihr rund 13 Millionen Menschen zum Opfer gefallen waren. Heute, 57 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz, sind wir im Plenarsaal des deutschen Bundestages zusammengekommen, um aller Opfer nationalsozialistischer Barbarei zu gedenken!" Dies erklärte Bundestagspräsident Wolfgang Thierse am 28. Januar im Plenum des Deutschen Bundestages anlässlich des Holocaust-Gedenktages.
Die bittere Erkenntnis, wozu Menschen fähig sind, "wird uns bis heute irritieren und beunruhigen", sagte er weiter. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit werde niemals abgeschlossen sein, weil die Einsichten, Lehren und Konsequenzen daraus niemals sicher und niemals selbstverständlich sein würden. Die erste Konsequenz sei zu Beginn der Bundesrepublik das Grundgesetz gewesen, die zweite sei die Europäische Union.
"Weiterarbeiten"
Die Utopie eines friedlichen Europas habe in den letzten 50 Jahren reale Kraft entfaltet und eindrucksvolle Erfolge erbracht. "Gerade jetzt müssen wir daran weiterarbeiten – namentlich durch die Erweiterung der Europäischen Union, die eine Vereinigung Europas ist", betonte der Bundestagspräsident. Für die Deutschen wäre .es besonders beschämend, wenn Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus hier wieder einen gefährlichen Nährboden von Ignoranz und Arroganz fänden. Deshalb sei es gefährlich, wenn junge Menschen zu wenig über die alten Kulturen und die eigene Geschichte wüssten. Ein Gedenktag allein reiche "selbstverständlich" nicht aus, um gerade junge Menschen für die Ideale der Demokratie und für die Idee eines vereinten Europas zu begeistern.
"Keine Nation unserer Nachbarn hat so sehr unter der deutschen Gewaltherrschaft gelitten wie Polen", betonte Thierse. Sechs Millionen polnische Bürger, darunter drei Millionen Juden, seien dem nationalsozialistischen Angriffskrieg und dem Terror der Besatzungszeit zum Opfer gefallen. Heute verbinde Polen und Deutsche wieder Sympathie.
"Wirkliche Versöhnung, die die Voraussetzung für die Vereinigung Europas ist, kann sich nur in der Wahrheit und ohne Ausblendung des Gedächtnisses vollziehen", betonte der ehemalige polnische Außenminister Bronislaw Geremek. Die Erinnerung an die Vergangenheit dürfe nie gegen ein Volk gerichtet sein, dürfe niemals Stoff für kollektive Schuldzuweisung sein. In den Jahrzehnten seit Kriegsende sei nicht nur ein Wechsel der Generation erfolgt, es habe sich auch die Beziehung zwischen Deutschen und Polen grundlegend gewandelt.
Wahrheit verlangt Erinnerung
Dies neue Verhältnis wäre jedoch nicht von Dauer, wenn es auf einer verordneten kollektiven Ausklammerung des Gedächtnisses beruhte. "Voraussetzung für dauerhafte Beziehungen ist die Wahrheit, und sie verlangt fortwährende Erinnerung", sagte er.
Das Europa von heute brauche ein kollektives Gedächtnis, wie der menschliche Organismus die Luft zum Atmen brauche. "Damit die wirtschaftlichen und politischen Erfolge der Europäischen Union von Dauer sind und den globalen Herausforderungen unserer Zeit gemäß, brauchen wir die geistige Einheit Europas, brauchen wir ein europäisches Identitätsgefühl", betonte Geremek.