Titelthema
DAS PROTOKOLL DES BUNDESTAGES BEIM ANNAN-BESUCH
Ein Spiel mit Tausenden von Bällen
Deutschlandbesuch des Friedensnobelpreisträgers Kofi Annan im Deutschen Bundestag. Der erste Generalsekretär der Vereinten Nationen, der direkt zu den Vertretern des deutschen Volkes spricht. Das ist natürlich kein alltägliches Ereignis. Die Fernsehanstalten sind live dabei, die Zeitungen berichten am nächsten Tag ausführlich über den so sanft wie nachdrücklich vorgetragenen Appell des Chefdiplomaten der Welt an Deutschland. Über den Dank für das zurückliegende Engagement und die laufenden Anstrengungen. Und über die Bitte, noch mehr Verantwortung zu übernehmen für eine friedlichere und gerechtere Entwicklung der Welt. Eine bemerkenswerte Rede, der alle Abgeordneten lebhaften Beifall spenden. Aber auch ein stark beachteter Besuch. Wie läuft so etwas ab? Blickpunkt Bundestag beobachtete das Protokoll des Deutschen Bundestages, das für das Bundestagspräsidium internationale Begegnungen vorbereitet, bei der Arbeit.
|
Die Flaggen der Vereinten Nationen und Deutschlands vor dem Reichstagsgebäude.
Der erste Eindruck für Laien: Eigentlich kann das kaum klappen. Die Weltdiplomatie ist wie ein Spiel mit Bällen. Aber ein Spiel mit tausenden verschieden großen Bällen, die sich Hunderte von unterschiedlich versierten Jongleuren ohne Unterlass kreuz und quer zuwerfen. Da sind die Termine der Politiker in ihrem Parlament mit denen in ihren Ministerien zu koordinieren. Und die mit denen in ihrer Partei. Und die mit denen in ihrem Wahlkreis. Und dann kommen die Auslandsreisen. Die müssen mit den Termin-Netzwerken der Gastgeber koordiniert werden, mit internationalen Konferenzen, kurzfristigen Unterredungen, blitzartigen Krisentreffen. Wie gesagt: Eigentlich kann das kaum klappen.
Aber es klappt. Denn es gibt die Protokollreferate in Regierungen und Parlamenten. Und darin sitzen Profis in der Bekämpfung des Chaos. Die Mischung aus Erfahrung und Voraussicht, aus Flexibilität und Improvisationstalent, die macht's. Die bringt auch einen Kofi-Annan-Besuch so gut über die Bühne, dass die Politiker sich auf die Inhalte konzentrieren können und die Sache voranbringen, während die Organisation im Hintergrund so reibungslos wie eben möglich abläuft.
Monate vorher zeichnet sich ab, dass der Generalsekretär einen Deutschland-Besuch plant. Irgendwann Anfang 2002. Wochen vorher kristallisiert sich die Möglichkeit heraus, dass es dabei zu dem seltenen Ereignis einer Rede vor dem Bundestag kommen könnte. Und mit jeder Woche intensivieren sich die Telefonkontakte, der Fax- und Briefaustausch zwischen der UN-Verwaltung, den deutschen Diplomaten in New York, dem Auswärtigen Amt und dem Kanzleramt in Berlin und nicht zuletzt dem Deutschen Bundestag. Der Ältestenrat tritt zusammen, und als Ergebnis lädt der Bundestagspräsident den UN-Generalsekretär erfreut zu Besuch und Rede im Plenum ein. Immer klarer werden Gesprächswünsche und mögliche Zeitfenster.
Zehn Tage vorher ist es dann so weit. Die Meldung landet im Protokoll-Referat des Parlamentes: Seine Exzellenz, der Generalsekretär, kommt. Und zwar wird er am 27. Februar auf dem militärischen Teil des Flughafens Berlin-Tegel landen. Und am folgenden Tag den Bundestag in seinem Terminkalender haben. Der Countdown läuft an. Bis 28. Februar, früher Vormittag. Bis dahin muss alles stehen.
|
Begrüßung Annans durch Bundestagspräsident Wolfgang Thierse am Ostportal des Reichstagsgebäudes.
Es beginnt die Phase der tausend Fragen. Zunächst vor allem mit dem Auswärtigen Amt und dem Kanzleramt. Um wie viel Uhr kann er kommen? Wie viel Zeit hat er? Wen sollte, könnte, möchte er sonst noch sehen? Wann muss er zum nächsten Termin? Wen lädt der Bundestag ein? Zu diesem Staatsereignis natürlich die anderen Staatsorgane. Und die Diplomaten. Bald sind die Einladungen gedruckt, die Briefe auf dem Weg, füllen sich die Listen mit den Zusagen.
|
Vorbereitungssitzung mit allen beteiligten Bundestagsreferaten.
Zwei Tage vor dem Ereignis trifft sich auf Einladung des Protokolls eine Runde mit den meisten Beteiligten zu einer Trockenübung. Der Besuch wird im Kopf Schritt für Schritt durchgespielt. Für Insider ist klar, dass hier "DirB", "PD 1", "PI 1", "PI 2", "PI 4", "ZI 3", "ZA 4" "ZT 3", "ZT 4" und noch etliche andere aus dem Abkürzungsverzeichnis der Bundestagsverwaltung an einem Tisch sitzen müssen, damit der Besuch nicht ins Stocken kommt. Buchstaben und Ziffern stehen für Abteilungen, Unterabteilungen und Referate, die die ganze Bandbreite dessen abdecken, an das zu denken ist.
|
Einsatzbesprechung des Plenarassistenzdienstes.
Die Abkürzungen bedeuten auf Deutsch: Das Pressereferat informiert die Medien über die Besuchsabläufe. Und: Die Öffentlichkeitsarbeit übernimmt die Erstellung einer Broschüre. Und: Der Polizei- und Sicherheitsdienst lässt den hohen Gast nebst Delegation ins Haus und schützt ihn. Und: Die Technischen Dienste bereiten Dolmetscher-Übertragungen vor. Und: Der Sprachendienst stellt Mitarbeiter für die Kabinen und die Begleitung der Gäste ab. Und: Der Besucherdienst steuert die übrigen Gäste des Hauses so, dass man sich nicht gegenseitig auf die Füße tritt. Und: Der Plenarassistenzdienst ("Saaldiener") notiert sich, was zu welchem Zeitpunkt an welchem Platz sein muss. Und: Der Auswärtige Ausschuss bereitet eine sich unmittelbar anschließende Sitzung mit dem prominenten Gast nebenan im Paul-Löbe-Haus vor. Und: Das Parlamentsfernsehen nimmt die Live-Übertragung in die Hand. Und, und, und, und ...
Am 26. Februar um 10.15 Uhr ist es in den Köpfen der Mitarbeiter inzwischen 28. Februar, 8.45 Uhr. Gerade hat Bundestagspräsident Wolfgang Thierse Kofi Annan und seine Gattin am Eingang des Reichstagsgebäudes herzlich in Empfang genommen. Welcher Eingang? Und von wo fährt er vor? Ist das mit den Fahrern geklärt? Weiter geht's. Nicht direkt in den Plenarsaal, sondern zunächst ins Kanzlerzimmer des Reichstagsgebäudes. Ein paar winzige Minuten für eine kleine Sache, die persönlich und vertraulich angesprochen werden soll. Aber ist unterwegs jemand dabei, der die Architektur erklären könnte? Ein Vertreter des Protokolls ist immer in der Nähe, falls Fragen kommen. Und ein Dolmetscher auch.
|
Die Plenarassistenten begeben sich an ihren Einsatzort.
Bei der Vorbesprechung am Dienstag um 10.25 Uhr nähert sich in den Köpfen die Uhr vom Donnerstag der vollen Stunde. Gleich wird es neun sein. Längst ist die Delegation Annans platziert. Die Begleitung wird diesmal nicht auf die Tribüne gebracht, sondern in den Plenarsaal. Damit es anschließend schneller geht, soll die Gruppe möglichst dicht zusammenbleiben. Vorne stehen sechs Stühle für den besonderen Anlass bereit. Wenn der Gast mit seiner Frau vom Bundestagspräsidenten in den Saal geleitet wird und sich die drei mit dem Kanzler auf die ersten vier Stühle setzen, der stellvertretende Bundesratspräsident und der stellvertretende Bundesverfassungsgerichtspräsident auf die beiden folgenden, kann protokollarisch nichts schief gehen. Klar, dass ein Mitarbeiter des Protokolls mitgeht, um den Erfolg der Aktion mit kleinen Gesten zu sichern – und sich danach sofort unsichtbar zu machen. Aber nur für das Publikum. Der Gast soll einen Ansprechpartner stets erreichen können.
|
Ausgabe der Empfänger für die Simultanübersetzung.
Kleiner Stopp im Ablauf: Die Stenografen sind diesmal nicht genau in der Mitte, sondern seitlich untergebracht. Schließlich sähe das nicht sehr gelungen aus, wenn Gäste und Stenografen sich aus nächster Nähe Auge in Auge gegenübersäßen. Aber was ist mit der Stenografenbank? Für Feierstunden wird sie meistens ausgebaut, damit mehr Platz ist. Keine Chance. Denn eine Viertelstunde nach Annans Rede wird der Bundestag seine normalen Geschäfte wieder aufnehmen. Zu knapp für einen Umbau.
Was aber ist mit dem Licht? Die Automatik produzierte beim letzten Mal eine Beleuchtungssituation, die Fotografen grausen ließ. Kann man das auch per Hand steuern? Die Technik kümmert sich. Und der Ton? Die Anlage bereitet noch Probleme, nicht überall ist alles perfekt zu verstehen. Die Technik kümmert sich. Einmal mehr will sie den Pegel "bis zum Anschlag" fahren. Abhilfe ist bestellt, und bis dahin behilft man sich. Entspannung bringt diesmal die in Englisch gehaltene Rede. Viele werden deshalb zum Kopfhörer greifen, und diese Beschallung klappt optimal. Denkt auch jemand an sechs Kopfhörer für die sechs Stühle vorne? Klar. Auf die Plenarassistenten wird Verlass sein. Wie immer.
|
Die Flaggen der Vereinten Nationen, der EU und Deutschlands liegen bereit.
Die Präsenz der Abgeordneten hat niemand in der Hand. Doch das Echo scheint enorm zu sein. Wie sieht's oben aus? 102 Diplomaten sind angemeldet. Das könnte knapp werden auf der Diplomatentribüne. Also sollten auch Reihen auf der Fraktionstribüne vorgesehen werden. Und wenn es auf der Pressetribüne eng wird? Oder es dort zu leer bleibt? Das lässt sich schlecht planen. Gibt es Besuchergruppen, die für diese Zeit angemeldet sind? Ein politisches Seminar mit Lehrern kommt gerade recht. Die sind bestimmt interessiert, zu dieser frühen Stunde statt Theorie im Sitzungssaal Praxis im Plenarsaal zu erleben. Der unschöne Eindruck gähnender Leere auf einer Tribüne ist somit auch gebannt.
Kommen wir nun zur Rede. Es ist 10.35 Uhr am 26. Februar, am 28. Februar aber erst 9.02 Uhr. Denn der Bundestagspräsident wird vorher nur wenige Sätze zur Begrüßung sagen. Dann unmittelbar der Gast. Sein Manuskript liegt schon vor. 13 groß beschriebene Vortragsseiten. Das sind also keine 20 Minuten. Alles überschaubar, alles im Plan. Zur Simultanübersetzung aber trotzdem ein ordentlicher Sprechumfang. Könnten diesmal Gläser mit Wasser in den Kabinen stehen? Wird gemacht. Und den Ton direkt auf die Hausleitung legen? Was ist mit einer Aufschaltung von Phoenix, von ntv? Kein Problem.
Wie geht es jetzt weiter? Zwei Etagen runter. Mit welchem Aufzug? Kann die Bundestagspolizei diesen kurz vorher reservieren, damit der Generalsekretär nicht unnötig warten muss? Gut. Dann rüber zum Paul-Löbe-Haus. Vielleicht vorher noch in den Andachtsraum. Das könnte Seine Exzellenz interessieren, er hat schließlich einen ähnlichen in New York. Wo ist übrigens seine Frau geblieben? Ach ja, zum Damenprogramm. Nane Annan trifft ehrenamtliche Unicef-Helfer der Berliner Arbeitsgruppe. Das Auswärtige Amt kümmert sich. Wo nimmt nun der Auswärtige Ausschuss den Generalsekretär in Empfang? Unmittelbar am Sitzungssaal. Die Delegation führen wir lieber eine Etage höher, dann kann sie direkt auf der Besuchertribüne des Ausschusses Platz nehmen.
|
|||||||||
Für den UN-Generalsekretär vorbereiteter Sessel im Plenum.
Und dann? Wieder durch den Nord-Ausgang heraus und weiter zu Außenminister, Verteidigungsminister, Kanzler. Aber halt! Warum Nord, warum nicht West? Dann kann Ausschussvorsitzender Hans-Ulrich Klose den Gast noch durch das neue, schicke Paul-Löbe-Haus führen. Vorne ist gerade eine Kunstausstellung. Das ist doch netter als auf demselben Weg nur zurück. Das gefällt, das passt. "Auf ein gutes Gelingen am Donnerstag." Es ist 11.05 Uhr am Dienstag, und alle Uhren stehen wieder auf Anfang. Was muss wann wohin? Die UN-Flaggen erwartet der Pförtner am Mittwochabend, dann sind sie Donnerstag auf jeden Fall sofort zur Hand. Und das Blumengesteck? Ein blau-weißes Band – wie die Farben der UN. Reicht 8 Uhr? Lieber 7.30 Uhr. Kommt man dann schon rein? Ab 6.30 Uhr steht der Dienst bereit.
|
Der Ehrengast am Rednerpult.
Die Mitglieder der Runde erheben sich, blicken aus dem Fenster auf den Vorplatz des Reichstagsgebäudes. Dorthin, wo in nicht einmal mehr 46 Stunden alles so laufen soll wie gerade besprochen. Das Funkgerät des Sicherheitsdienstes meldet sich. Gerade fährt der iranische Außenminister vor. Denn Kofi Annan ist nicht der einzige Besucher. Bei weitem nicht. Damit Kontakte nützlich sein können, müssen sie gepflegt werden.
|
||||||||||
Teil eines Kopfhörers für die Simultanübersetzung.
Im Schnitt kommt einmal im Monat ein Präsident eines anderen Parlamentes nach Berlin, der dann ganz in der Obhut des Bundestagsprotokolls steht. Und im Schnitt macht sich einmal im Monat ein Mitglied des Bundestagspräsidiums zur Pflege der interparlamentarischen Beziehungen auf die Reise. Auch das wird vom Protokoll vorbereitet und begleitet. Immer zusammen mit den Kollegen vom Auswärtigen Amt. Die Reisepässe der Mitarbeiter sind voller bunter Visa. Man kommt ganz schön rum in diesem Job. Aber mit Touristik oder Erholung hat das nichts zu tun. Diesen Irrtum erkennen Neulinge spätestens am zweiten Tag, wenn sie wieder 20 Stunden auf den Beinen waren, wieder nur Flughafen, Parlament und Hotel, aber nichts von der Stadt gesehen haben.
|
Anbringung des Blumendekors am Stenografentisch.
Gäste vom Rang Annans sind nicht alltäglich. Aber allwöchentlich sind durchaus zwei oder drei, manchmal sogar vier oder fünf wichtige internationale Besucher. "Wachsende Bedeutung Deutschlands in der Welt" – das sind nur sechs Wörter. Aber viele, viele Besuche. In Berlin deutlich mehr als in Bonn. Jetzt zum Beispiel außer dem iranischen Außenminister auch die thailändische Kronprinzessin. Und die Botschafter Kroatiens, Rumäniens, Brasiliens, die den Bundestagspräsidenten nacheinander aufsuchen, um eine Konferenz vorzubesprechen, einen Präsidentenbesuch vorzubereiten, eine Abschiedsvisite zu unternehmen. Und immer ist das Protokoll dabei. Sachbearbeiter und Referenten bereiten vor, begleiten, bereiten nach. Jeder arbeitet "seine" Besuche nicht nacheinander ab, sondern wie ein Jongleur mit mehreren Bällen, immer eine Handvoll Besuche gleichzeitig. Oder mehr.
Gründliches Planen ist nur die halbe Miete. Oft überschlagen sich irgendwo in der Welt die Ereignisse und bringen mitten in den Besuchen abrupte Bedürfnisse an den Tag. Ganz schnell, also nicht binnen Tagen oder Stunden, sondern binnen Minuten, müssen dann neue Gesprächspartner und -terminabfolgen herbei. Protokoll, sagt das Protokoll, das ist etwas für Liebhaber, das liegt nicht jedem, das ist etwas Spezielles.
Die Kollegen kommen vom Annan-Besuch ins Referat zurück. Gast und Gastgeber waren rundum zufrieden. Alles prima. Aber kein Grund zum Verschnaufen oder Zurücklehnen. Die nächsten Besuche drängen. Die sollen doch auch wieder klappen. Wieder hat die Phase der Fragen längst begonnen ...
Gregor Mayntz