Titelthema
Die ersten Schritte der neuen Abgeordneten in Berlin
So ein Kribbeln im Bauch
Gleich in den ersten Tagen nach der Wahl kamen die neuen Abgeordneten nach Berlin, um mit der Arbeit zu beginnen. Am Anfang war alles aufregend und anstrengend zugleich. Zum Glück gab es Hilfe, soviel man brauchte.
Irgendwann in den späten Abendstunden des 22. September haben sie es gewusst. Am darauf folgenden Tag schon war es amtlich und es kam ein Glückwunsch des Bundestagspräsidenten, zusammen mit vielen anderen Glückwünschen, die es gibt, wenn man Mitglied des Deutschen Bundestages wird.
Ein neues Leben beginnt. So viel war klar. Aber wie beginnt es, was muss als Erstes getan werden, wer sagt einem, wo und wann, wie die Dinge nun laufen werden, wann fliegt das nächste Flugzeug, wann fährt der nächste Zug nach Berlin, wird die Sonne scheinen?
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Die Vorbereitungen für einen guten Empfang aller neuen Bundestagsabgeordneten waren am Montag nach der Wahl zu einem großen Teil gelaufen. Für jede und jeden gab es, eingepackt in eine stabile Klarsichthülle, das Startpaket: Die kleine schwarze Lederhülle, in der sich der vorläufige Abgeordnetenausweis befand und die Bahncard erster Klasse, die Anträge der Reisestelle für die Erstattung der Fahrkosten, Hinweise, Verhaltensregeln und das Handbuch für Abgeordnete. Letzteres erkannten die meisten ganz schnell und sehr erfreut als praktische Lebenshilfe in fast allen neuen Situationen. So etwas kann man gebrauchen, denn auch mit dem Startpaket bleiben noch eine Menge Fragen offen.
Die erste richtige Bewährungsprobe waren die Fraktionssitzungen. Sie fanden am Montag und Dienstag nach der Wahl statt und waren begleitet von einem Aufgebot an Journalisten, das seinesgleichen sucht. Umso besser, dass vor den Sitzungsräumen Tische aufgebaut waren, hinter denen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verschiedener Referate saßen, bereit, alle Fragen der Neuankömmlinge zu beantworten und jede gewünschte Hilfestellung zu geben. Hinweisschilder machten die Sache einfach: Internationale Beziehungen, Dienst- und Mandatsreisen, Dienstreisegenehmigungen, Entschädigung von Abgeordneten, Sachmittelausstattung, Angelegenheiten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Abgeordneten ... Irgendwo stand auch immer ein Imbissstand mit dem Angebot, sich ein wenig zu stärken und den Trubel aus zehn Meter Entfernung zu betrachten.
Die FDP machte am 23. September den Anfang, 11.30 Uhr. Vor den Fahrstühlen drängten sich die Kameraleute. Daniel Bahr aus Münster, 26 Jahre alt, Bundesvorsitzender der Jungen Liberalen, sieht ein wenig anders aus als auf seiner Homepage. Das liegt vielleicht an Anzug und Krawatte, aber man kann es nicht näher verifizieren, denn Daniel Bahr wird ununterbrochen beglückwünscht, in Gespräche gezogen, er muss sich bewegen und Hände schütteln und reden. Kein Unbekannter also und nichts da mit: "Hätten Sie mal zehn Minuten Zeit?" Heute nicht. Aber morgen.
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Petra Merkel, SPD, trägt sich erstmals zur Fraktionssitzung ein.
"Eigentlich war ich am neugierigsten auf den Plenarsaal. Den habe ich aber in den ersten Tagen gar nicht betreten können. Dafür bekam ich allerdings eine Menge Papiere. Es wäre besser gewesen, mit einem leeren Koffer anzureisen, um das alles unterzukriegen. Die schönen Momente, jenseits aller Hektik? Den Ausweis in die Hand zu bekommen, auf dem schwarz auf weiß steht, ich bin jetzt Abgeordneter des Bundestages. Und der Beginn der Fraktionssitzung. Da habe ich aus dem Fenster geschaut und plötzlich bekam ich so ein Kribbeln im Bauch. Jetzt fängt also eine ganz große Herausforderung an, dachte ich. Ich werde in Berlin bei meiner Freundin wohnen, die hier studiert, ich werde mich eingewöhnen, Politik machen, lernen und Dinge in Bewegung setzen. Sie wollen wissen, was ich in mein neues Büro, das ich noch nicht kenne, mitbringen werde? Ich habe ja bis jetzt in einer Bank gearbeitet, da gibt es keine persönlichen Sachen von mir am Arbeitsplatz. Vielleicht bringe ich meine Genschman-Puppe von zu Hause mit. Das hätte doch was."
Hildegard Müller, CDU/CSU, beim Empfang der MdB-Unterlagen.
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Auf den Einzug in die neuen Büros mussten die meisten neuen Abgeordneten noch ein paar Tage warten. Der künftige Arbeitsplatz hängt auch davon ab, in welchem Ausschuss oder Arbeitskreis man tätig sein wird. Also gibt es erst einmal Provisorien.
Im Büro von Andrea Fischer trifft man deshalb die neue Abgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen, die 46-jährige Biggi Bender. Sie war die erste weibliche Fraktionsvorsitzende der Grünen im baden-württembergischen Landtag, eine geachtete und gefürchtete Rednerin und begeisterte Sportlerin. Ihr Start in den Bundestag verläuft temporeich. Fraktionssitzung am Dienstag, Beratungen, Besorgungen, Erkundungen und ein kleines Missgeschick: "Mir ist doch tatsächlich bei der Fraktionssitzung mein Mantel abhanden gekommen, mitsamt Ausweis und Visitenkarten. Also hab ich jedes Mal beim Betreten des Hauses meinen Spruch aufsagen müssen, dass ich – kaum gekommen – den Ausweis verloren habe. Am Ende stellte sich raus, dass ein Mitarbeiter von Volker Beck, der geschickt war, dessen Mantel zu holen, meinen mitgenommen hatte.
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Biggi Bender, B'90/Grüne, wird von ihrem Fraktionskollegen Rezzo Schlauch begrüßt.
Worauf ich neugierig bin? Auf die Fraktion natürlich, da sind Leute dabei, die ich gar nicht kenne. Auf die Arbeit, was ich tun kann und werde, wie die Zusammenarbeit sein wird, wie schnell ich mich eingewöhne, wie es in einem solch großen Parlament ist. Auf die Stadt bin ich neugierig. Ich habe mir erst einmal ein Zimmer zur Untermiete genommen, würde aber gern in einer Wohngemeinschaft leben. Da ist wenigstens immer jemand da, der die Topfpflanzen gießen kann. Ins neue Büro jedenfalls habe ich vorerst nur grünen Tee und einen Teefilter mitgebracht."
Hildegard Müller ist aus Düsseldorf angereist. Die Vorsitzende der Jungen Union verstärkt die CDU/CSU-Fraktion. Nach dem Lesen ihrer Homepage könnte man vermuten, dass die 35-Jährige auf Rollschuhen zur ersten Fraktionssitzung kommt. Eine eher schräge Vorstellung, die sich natürlich nicht bewahrheitet. Furios und schnell kommt sie trotzdem an diesem Dienstag. Da liegen schon eine Menge Termine hinter und noch viele vor ihr.
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"Im Moment habe ich noch ein bisschen das Gefühl, wie im Erstsemester mit dem Block rumzulaufen und andauernd Fragen stellen zu müssen. Gestern Abend hatte ich ein paar Stunden für mich, habe in meiner Berliner Wohnung auf der Couch gesessen und war glücklich, in dieser Stadt bereits einen Raum für mich zu haben. Ich liebe Berlin und war schon als Schülerin oft hier. Neugierig bin ich vor allem darauf, ob es gelingt, im Parlament umzusetzen, was man vorher in der politischen Arbeit begonnen hat. Wissen Sie, es ist wirklich so: Wenn man diesen Ausweis bekommt, ist das ein ganz besonderer Moment. Erst dann lässt sich wirklich realisieren, dass man jetzt dazugehört. In mein neues Büro, wenn ich es denn habe, werde ich auf jeden Fall eine Collage hängen, die ich im Wahlkampf geschenkt bekommen habe. Das sind Bilder aus dem Wahlkampf – fröhliche und müde Momente. Schön. Außerdem habe ich noch eine Figur, die einst am Düsseldorfer Kunstmuseum zu bewundern war. Sie hing dort an einer Außenwand. Kennen Sie die ‚Flossies'? Nicht? Dann kommen Sie doch mal vorbei, wenn ich richtig eingezogen bin."
Die neue SPD-Bundestagsabgeordnete Petra Merkel konnte den Vorteil des kurzen Weges genießen. Sie zieht vom Berliner Abgeordnetenhaus in den Bundestag – bleibt geradezu im Kiez, wie die Berliner sagen. Ansonsten ist fast alles anders. Petra Merkel, 55 Jahre alt, die im Berliner Wahlkreis Charlottenburg-Wilmersdorf das Direktmandat gewann, kommt aufgeregt und fröhlich zugleich zur Fraktionssitzung. Auch für sie ist der Augenblick, da sie den Abgeordnetenausweis in den Händen hält, ein besonderer. So ein Gefühl eben, das sich schwer beschreiben lässt.
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Daniel Bahr, FDP, muss erstmals seinen neuen Ausweis vorzeigen.
"Ich bin neugierig darauf, wie die Stadt einen noch greift, wenn man im Bundestag sitzt. Ich glaube, das Ankommen des Parlaments in Berlin ist noch immer im Gang. Ich will meine Anker in Berlin haben und will zugleich, dass die Stadt mich auch ein bisschen hält. Es war nie meine Planung, in den Bundestag zu kommen, ist aber nun irgendwie die Krönung meiner bisherigen politischen Arbeit. Hier ist alles größer. So schlicht muss ich meinen ersten Eindruck beschreiben. Schon allein die Fraktion mit ihren 251 Abgeordneten. Wie lange werde ich brauchen, die alle kennen zu lernen und zu kennen? Hier werde ich in anderen Zusammenhängen arbeiten, vieles wird neu sein. Und ich bin auf alles gespannt. Was ich in mein neues Büro mitnehmen werde? Ich habe da so ein Bild in meinem alten Büro. Das heißt 'Hauptstadtfähig ...?' und ist entstanden, weil ich einem Kollegen jedes Jahr zur Weiberfastnacht den Schlips abgeschnitten habe. Ein fröhliches Bild halt. Kann man sich eigentlich in den Büros selbst ein Loch in die Wand bohren?"
Auf all diese kleinen und größeren Fragen wird es Antworten geben. Von den "alten Hasen" und zugleich neuen Kollegen, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Fraktionen und des Bundestages. Auch wenn in diesen ersten Tagen die Bürohäuser des Bundestages und das Reichstagsgebäude mehr Trubel als Ruhe ausstrahlen. Man trifft so manche, die nach dem Weg fragen, die Kantine suchen oder einfach nur die Toilette, zwar gut vom provisorischen Büro ins Reichstagsgebäude kommen, sich aber auf dem Rückweg hoffnungslos verlaufen und dabei aber feststellen, wie viel es zu sehen und zu erfahren gibt.
Text: Kathrin Gerlof/Fotos: Phalanx