Sechs Monate nach EU-Erweiterung: Der "Big Bang" ist ausgeblieben
Berlin: (hib/WOL) Der "Big Bang" ist bislang ausgeblieben. So lautet die einhellige Einschätzung der Experten zur Bewertung der ersten sechs Monate nach der EU-Erweiterung in der Sitzung des EU-Ausschusses am Mittwochnachmittag. Professor Rolf Karbaum, Oberbürgermeister der Stadt Görlitz brachte es auf den Punkt, als er feststellte, es habe keine Überschwemmung mit Billigprodukten gegeben, keinen Anstieg der Kriminalität, aber auch noch keine bedeutsame wirtschaftliche Verflechtung in den Anrainergebieten Deutschlands mit den neuen EU-Nachbarn Tschechien und Polen. Das derzeitige Lohngefälle biete große Chancen, aber auch ein großes Risiko. Einzuschätzen sei die Entwicklung wohl erst nach dem Wegfall der Übergangsfristen. Toni Hinterdobler, Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Niederbayern-Oberpfalz sagte, der 1. Mai 2004 sei das politische Signal gewesen - aber nicht für die Wirtschaft, und es habe es auch keine Flutwelle von Arbeitskräften gegeben. Gestiegen sei aber der Anpassungsdruck; der Strukturwandel schreite fort, brauche jedoch im Vergleich zum gut abgestimmten Binnenmarkt mit Österreich mehr Zeit. Zu den Auswirkungen des Lohnniveaus erklärte Hinterdobler, die Verlagerung von Betrieben laufe weiter, halte aber an den neuen EU-Grenzen nicht an, sondern gehe gerade bei Großunternehmen weit über die EU hinaus bis nach China. Ein enormer Verlagerungsdruck sei im produktiven Gewerbe durch die großen Zulieferer zu verzeichnen, während im Bauwesen die derzeitigen Übergangsfristen wirkten und es bislang keine Probleme gebe.
Das bestätigte auch Thomas Schneider, stellvertretender Vorsitzender der Sparkasse Oder-Spree und Vorstandsvorsitzender des deutsch-polnischen Kooperationsbüros der Sparkassen. Abgesehen vom Tanktourismus, den schon der Görlitzer Oberbürgermeister als katastrophal bezeichnet habe, sei die Entwicklung in Brandenburg nahezu unverändert. Über die Grenzregion hinaus zeichne sich aber ab, dass polnische Unternehmen ihre Aktivitäten nicht nur auf die neuen Bundesländer, sondern verstärkt auf die alten Bundesländer richteten. Das entlaste nicht die Strukturschwäche der Region. Gestiegen sei dennoch die Zahl der Anfragen für deutsch-polnische Kooperationen und in Frankfurt/Oder gebe es 31 neue Gewerbeunternehmen aus dem Nachbarland. Erheblich sei die Nachfrage nach deutschen Qualitätserzeugnissen. Schneider warb dafür, mit Anstrengungen für ein Mittel- und Osteuropazentrum zur Wahrnehmung der Interessen mittelständischer Unternehmer zu verbessern. Wichtig für die Region sei auch die Zukunft der Universität Viadrina bei der deutsch-polnischen Entwicklung. Berthold Busch, Leiter des Referates Europäische Integration im Institut der deutschen Wirtschaft in Köln, bestätigte die Einschätzung der Kollegen vor Ort. Allerdings sei der Prozess der Anfang 1990 vorgenommenen Kooperationen und ihrer wirtschaftlichen Auswirkungen noch nicht abgeschlossen. Der deutsche Export in die Nachbarländer habe um 100 Prozent zugenommen, während der polnische und tschechische Export um 300 Prozent gestiegen sei.
Keine signifikanten Änderungen gab es laut Udo Borgholder, Inspektor des Bundesgrenzschutzes im Bereich von Grenzpolizei und Polizei. Gemeinsam mit polnischen und tschechischen Einheiten habe man seit Mitte 1990 darauf hingearbeitet, die Sicherungsaufgaben nicht in Konkurrenz, sondern im Schulterschluss wahrzunehmen. Zudem seien die Kontrollen nicht aufgehoben, weshalb sich auch etwa im Hinblick auf Aktivitäten aus Drittstaaten so gut wie nichts geändert habe. Der Zoll habe sich zwar aus den Grenzbereichen zurückgezogen, führe aber im Hinterland verstärkte Kontrollen durch. Einhellig bei allen Sachverständigen war die Beobachtung von Bernd Rohde, Abteilungsleiter im Sächsischen Staatsministerium für Wirtschaft und Arbeit, das deutlichste Zeichen des Erweiterung sei das schlagartige Ende der Autostaus, obwohl der PKW-Verkehr um etwa 20 Prozent und der LKW-Verkehr um etwa 100 Prozent zugenommen habe. Geteilt wurde auch die Kritik Rohdes an der Deutschen Bahn AG: Es sei völlig unverständlich, wenn mit der EU-Erweiterung eine durchgängige Ost-West-Verbindung zwischen den neuen Hauptstädten der EU und zu den Metropolen am Rhein und darüber hinaus eingestellt werden solle. Allein mit "mäßiger Auslastung" sei die Entscheidung nicht zu begründen, werde sich aber massiv und nachhaltig negativ auf den Zusammenschluss der EU-Einheit auswirken.