Von nachweislich erstmals zu hörenden Klagen "so geht das nicht weiter" bis zur Eröffnung des Erweiterungsbaues der Anna Amalia Bibliothek Weimar am 4. Februar dieses Jahres ist ziemlich exakt ein Jahrhundert vergangen. 13 Jahre und 23,8 Millionen Euro brauchte es von der unumgänglichen Einsicht aller, dass etwas geschehen muss, bis zur Fertigstellung des als Studienzentrum firmierenden Bibliotheksneubaus.
Wenn Bücher ihre Schicksale haben, so hat diese Bibliothek ganz gewiss auch eines. War es vor 300 Jahren doch eben jene heute als Anna Amalia Bibliothek bekannte Einrichtung, welche als eine der ersten überhaupt eine fürstliche Büchersammlung in Deutschland der Öffentlichkeit zugänglich machte. Wollten Goethe, Herder, Wieland, Schiller oder all die anderen Nutzer sich Werke ausleihen, so gaben sie diverse Wunschlisten ab und wurden einige Zeit später bedient. An diesem Vorgang änderte sich über die Jahrhunderte fast nichts.
Allerdings sorgte der stetig wachsende Bestand an Büchern, Karten und Grafiken dafür, dass immer mehr Außendepots gefunden werden mussten und dass die Zeit zwischen Ausleihwunsch und Erfüllung desselben Ausmaße annahm, die nationalen und internationalen Vergleichen bald nicht mehr standhielten. In der auch wegen ihres einzigartigartigen historischen Ambientes weltweit bekannten Bibliothek klafften Anspruch und Wirklichkeit immer weiter auseinander.
Bibliotheksprotokolle aus den 30er-Jahren lesen sich wie Schreie der Verzweiflung. Auch in der sich als "Leseland" rühmenden DDR wurde an diesem Notstand nichts geändert. Nach einem Rundgang durch den jetzt eingeweihten Erweiterungsbau möchte man allerdings behaupten: Welch ein Glück!
Das an den Pioniergeist von Weimars Bauhaus-Epoche anknüpfende Geniale zeigt sich nicht auf den ersten Blick, sondern erst hinter einer klassizistischen Mauer. Da offenbart sich ein bauliches Ensemble, das beginnend bei der Renaissance fünf Baustile vereint und mit dem Neubau eine Ergänzung erfahren hat, die im Nachhinein all jene bestätigt, die sich dafür einsetzten, den Erweiterungsbau just in diesem historischen Areal und nicht auf der grünen Wiese zu errichten. Der sechsgeschossige, von einem Glasdach gedeckte, rundum mit Bücherwänden ausgestattete neue Kubus nimmt den runden Bücherturm am Altbau der Bibliothek schräg gegenüber geschickt auf. Das Parkmagazin mit seinen ins Grüne des Ilm-Parks reichenden Leseplätzen und die sicheren, mit einer Platzreserve für die nächsten Jahrzehnte gebauten Tiefenmagazine schaffen eine Verbindung zwischen alter und neuer Bibliothek.
Den Nutzern aus aller Welt steht jetzt zum ersten Mal ein erkennbares Forschungszentrum der Stiftung Weimarer Klassik zur Verfügung, dessen Bibliothek wieder alle Bücher - und das sind seit dem Brand im historischen Gebäude vor sechs Monaten noch immer rund 900.000 - an einem Ort vereint und sich im Standard des 21. Jahrhunderts präsentiert. 130 mit Internetzugang ausgestattete Arbeitsplätze (in der alten Bibliothek waren es nur 30) stehen bereit. Rund 100.000 Exemplare umfasst der Freihandbestand. Dass der Leser aber auch jeden anderen gewünschten Titel in maximal 25 Minuten auf seinem Arbeitsplatz haben kann und bei Fragen ausnahmslos von Fachpersonal beraten wird, ist eine hervorhebenswerte Leistung.
Die Erweiterung der Anna Amalia Bibliothek ist vollendet. Begonnen hat die auch ohne den Brand vom 2. September 2004 bereits geplante Sanierung des historischen Stammgebäudes. Erst wenn dieser authentische Ort wieder seine Pforten öffnet - gerechnet wird damit im Jahre 2007 -, wird man sagen können, dass in zugegeben schwierigen Zeiten Großes für den literarischen Ort Weimar getan wurde.