Als der Parlamentarische Rat am 10. Mai 1949 Bonn zur vorläufigen Hauptstadt ernennt, wird es eng in den Räumen der ehemaligen Pädagogischen Akademie. 410 Abgeordnete und noch mehr Verwaltungsangestellte müssen in den paar Gebäuden untergebracht werden, da heißt es zusammenrücken: Fünf Volksvertreter teilen sich im Schnitt ein Büro. Nicht mal das neue, sechsgeschossige Abgeordnetenhaus kann das akute Raumproblem des Bundestages lösen. 1954, nachdem weitere Zusatzbauten fertiggestellt sind, stehen für rund 1.300 Personen nur 600 Büroräume zur Verfügung.
Zu wenig, findet auch Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier, und fordert, dass jedem Abgeordneten doch "ein kleines ausreichendes Zimmer" zur Verfügung stehen müsste, ebenso Räume für die Fraktionen und Ausschüsse. Doch viele Verantwortliche zögern. Bonn gilt noch immer als provisorische Hauptstadt, viele hoffen, dass Berlin in absehbarer Zeit wieder Regierungssitz wird.
Spätestens am 13. August 1961 erweist sich das als Illusion. Der Bau der Berliner Mauer macht auch dem letzten Optimisten klar, dass sich der Aufenthalt der Volksvertreter in dem betulichen Städtchen am Rhein noch etwas in die Länge ziehen könnte.
Mit Provisorien wollen sie sich daher nicht mehr zufrieden geben. Im Dezember 1961 schlägt Eugen Gerstenmaier vor, einen Neubau mit den erforderlichen Ausschussräumen zu errichten. Doch erst am 17. Februar 1965 bewilligt der Bundestag die entsprechenden Mittel. Zwölf Millionen Mark werden zunächst freigegeben, die Gesamtkosten werden auf 48,5 Millionen beziffert. 447 Büroräume, 20 Sitzungssäle und 120 Büroräume für die Ausschüsse sollen entstehen. Gerstenmaier nimmt Kritikern, die wie ehedem auf den Provisoriumscharakter Bonns und die hohen Kosten verweisen, bald den Wind aus den Segeln. Das neue Bürohochhaus entspreche nunmal den Arbeitsstrukturen des Bundestages, argumentiert er, nicht ohne hinzuzufügen: "Man kann es bedauern, meine Damen und Herren, dass sich der deutsche Parlamentarismus im Laufe dieser 15 Jahre so entwickelt hat, dass er sich vorwiegend in Arbeitskreisen der Fraktionen, in Ausschüssen und in der Einzelarbeit des Abgeordneten vollzieht. Das bedeutet eine Verlagerung der Parlamentsarbeit aus dem Plenum heraus und damit natürlich weithin in die Unsichtbarkeit."
Platz ist dafür bald genug. Als das "Neue Hochhaus" nach den Plänen des angesehenen Architekten Egon Eiermann nach zweieinhalb Jahren Bauzeit im Februar 1969 endlich bezugsfertig ist, erwartet die Abgeordneten ungewöhnlicher "Luxus". Jeder Volksvertreter verfügt künftig über ein eigenes Büro von genau 17 Quadratmetern, mit Schreibtisch, Besprechungsecke und Kaltwasser-Waschbecken. Im 29. Stock gibt es eine Cafeteria, von der aus die Beschäftigten den Blick vom Tellerrand - beliebt ist Sauerbraten, dazu rheinischer Wein - ins Siebengebirge schweifen lassen können. Nur die Sekretärinnen erwartet Gewohntes: Sie sitzen weiterhin in Großraumbüros.
Schnell hat das Stahlskelett seinen Spitznamen weg: "Langer Eugen" nennen es die Bonner, und würdigen damit die Verdienste des eher klein gewachsenen Eugen Gerstenmaier, der sich unermüdlich für den Bau des Bonner Wahrzeichens eingesetzt hatte. Mit 106 Metern Höhe und 29 Etagen ist es das höchste Gebäude der Stadt, und es gilt, nicht zuletzt wegen seines hochmodernen, puristischen Stils, als Sensation.
1998 wird der "Lange Eugen" auf Beschluss der nordrhein-westfälischen Landesregierung zum Denkmal erklärt. Mit seinem Verzicht auf hierarchische Elemente in der Fassadengestaltung sei das Hochhaus ein "anschauliches Beispiel für das Verständnis demokratischen Bauens in der jungen Bundesrepublik", finden die Denkmalschützer. Eiermanns Credo - "Weglassen und noch mal Weglassen bedeutet die Gewähr des größeren Eindrucks" - scheint seine Anhänger gefunden zu haben.
Seine glanzvollsten Zeiten hat der "Lange Eugen" indes hinter sich. Im Bonner Stadtbild wird er inzwischen vom 162,5 Meter hohen Post-Tower überragt. Und Bildungseinrichtungen, die nach dem Regierungsumzug die Stockwerke bevölkerten, verließen den maroden Bau bald entnervt. Nach einer Generalüberholung sollen im Sommer 2005 UN-Organisationen einziehen.
Die Parlamentarier haben dem Bonner Provisorium längst den Rücken gekehrt. In Berlin haben sie noch größere und noch modernere Arbeitsquartiere bezogen, und auch die Sekretärinnen müssen nicht mehr Seit an Seit Protokolle tippen. Dafür war der "Lange Eugen" mit nur 50 Millionen Mark Baukosten aber auch wirklich ein Schnäppchen.