Seit 18 Uhr tagt der städtische "Ausschuss für Bürgerarbeit". Er wird an diesem Abend darüber entscheiden, ob Werner H. auch in den kommenden vier Jahren mit Bürgergeld rechnen kann. Werner H. rutscht nervös auf einer harten Bank vor dem kleinen Sitzungsraum des Rathauses hin und her. Endlich. Um 21 Uhr geht die Tür auf. Die zwei Stadträte und der Finanzbeamte, die den Ausschuss bilden, bitten Werner H. herein. Danach atmet er erleichtert auf. Der Ausschuss hat anerkannt, dass sein regelmäßiges Engagement für Alzheimer-Kranke im Pflegeheim Sankt Deus eine monatliche Zahlung von 800 Euro vom Finanzamt rechtfertigt. Wie bisher wird Werner H. das Geld mit seiner Einkommenssteuer verrechnen müssen.
Der 48-jährige Bankangestellte ist froh, dass er ein Leben weiterführen kann, an das er sich gewöhnt hat, seit die Bundesregierung im Jahre 2016 für bestimmte, vorher ehrenamtliche Tätigkeiten ein Bürgergeld einführte. Dazu zählen die Erziehung von Kindern, die häusliche Pflege und die Betreuung von Behinderten oder Pflegebedürftigen, die nicht mehr zu Hause leben können. Mit dem Bürgergeld konnte Werner H. seinen Traum verwirklichen. Schon lange wollte er seine Arbeitszeit als Kreditsachbearbeiter verringern, um mehr Zeit für sein Engagement zu haben: nämlich für die Betreuung von Alzheimer-Kranken wie Maria Simons.
Mit Alzheimer kam Werner H. erstmals in Berührung, als seine Mutter vor 20 Jahren erkrankte. In den ersten Monaten nach der Diagnose war sie ihm immer fremder geworden. Doch dann hatte er sich mit dieser Krankheit beschäftigt und den ungewohnten Umgang mit seiner Mutter neu schätzen gelernt. Wie gerne hätte er mehr Zeit für sie gehabt, nachdem sie ins Pflegeheim umziehen musste. Doch damals, Anfang 2005, hatte er sich gerade in der Bank etabliert, seine Frau war schwanger geworden. An eine reduzierte Stundenzahl bei der Bank oder an Teilzeit war nicht zu denken - die Familie hätte von dem verminderten Gehalt nicht leben können. So wurstelte sich Werner H. Tag für Tag durch: acht intensive Stunden in der Bank, danach Frau, Kind und - wann immer es möglich war - seine Mutter.
Und bei alledem tobte noch eine gesellschaftliche Diskussion, die ihn zunehmend irritierte. Auf Kanzeln, in Vorträgen, im Fernsehen wurde der angeblich wachsende Egoismus der Menschen kritisiert. Für die meisten Menschen zähle nichts als Geld - kein Engagement, keine Solidarität. Dass wissenschaftliche Studien andere Ergebnisse zu Tage förderten, konnte Werner H. nur teilweise beruhigen. So hatte eine Studie des Familienministeriums bereits Anfang 2001 nachgewiesen, dass mehr als ein Drittel der bundesdeutschen Bevölkerung ehrenamtlich tätig war. Doch die Reden von dem angeblich allgegenwärtigen Egoismus schwollen nicht ab.
Andererseits erlebte Werner H. den Mangel an Personal bei der Pflege seiner Mutter hautnah. Er besuchte sie, wann immer er konnte. Doch wie wichtig wären Menschen, die Pflegebedürftige einfach besuchen, ihre Hand halten, mit ihnen sprechen oder Kaffee trinken. Dass sich dafür so wenige Menschen engagierten, lag allerdings weniger an dem immer wieder kritisierten Egoismus, sondern an den Zwängen des Arbeitsmarktes. In Industrie und Verwaltung wurde weiter rationalisiert - die Zahl der Arbeitsplätze nahm langsam, aber stetig ab. Immer weniger Leute mussten immer mehr arbeiten, während immer mehr Menschen gar keinen Arbeitsplatz hatten oder sich als Ich-AG von Projekt zu Projekt, von Honorartopf zu Honorartopf hangelten. Wer hatte unter diesem Druck noch die Zeit und die Energie, sich ehrenamtlich zu engagieren?
Auch die Prognosen der Wissenschaftler verhießen nichts Gutes. Am weitesten ging der prominente US-amerikanische Arbeitsforscher Jeremy Rifkin. Auf Grund des rasanten technischen Fortschritts sagte er für das Jahr 2050 die 20:80-Gesellschaft voraus: 20 Prozent der Erwerbsfähigen haben Erwerbsarbeit, die verbleibenden 80 Prozent schlagen sich so durchs Leben. Natürlich, das wusste auch Werner H., übertreiben Experten immer. Doch für ihn war klar, dass diese Krise auf dem Arbeitsmarkt nicht allein durch eine effektivere Vermittlung von Arbeitslosen zu bewältigen war, wie sie die umstrittenen Hartz-Gesetze anstrebten. Wann immer er vor dem Einschlafen seine Tage in der Bank, in der Familie und bei seiner Mutter Revue passieren ließ, fragte er sich: Wenn der Gesellschaft die Arbeitsplätze ausgehen, nicht aber die Arbeit - warum macht man dann nicht einfach aus der Not eine Tugend und erklärt Erziehung, Pflege und anderes soziales Engagement zu Arbeit?
So dachten auch andere und gaben dieser Vision einen Namen: die Tätigkeitsgesellschaft. Diese Vision wurde breit diskutiert: in Akademien, auf großen Tagungen, in Büchern, in den Medien. Doch wie so oft in Deutschland zerstritt man sich dann über die praktischen Fragen: Sollte man die Tätigkeiten bezahlen und, wenn ja, in welcher Form. Da schlugen die einen Steuerfreibeträge, die anderen ein Punktesystem vor, für das sich Engagierte ein Recht auf öffentliche und soziale Dienstleistungen erwerben konnten. Doch letztlich passierte, was in Deutschland nach endlosen Debatten oft passiert: nichts.
Die Lage wurde für Werner H. fast verzweifelt, als seine Mutter nach einem Schlaganfall starb. Wie gerne hätte er seiner Mutter mehr Zeit widmen wollen. Doch ihre Krankheit hatte ihn und seine Familie bereits an die Belastungsgrenze gebracht. Umso glück-licher war er, als ihm die Bank ein unerwartetes Angebot unterbreitete. Er könnte doch für einige Jahre den Aufbau einer Filiale in den USA begleiten - und danach wieder auf seinen alten Arbeitsplatz zurückkehren.
Gesagt, getan. Zwar war der Anfang in der Neuen Welt schwierig. Eines stellte er jedoch schon nach wenigen Wochen fest: Freiwilliges Engagement war hoch angesehen und entsprechend weit verbreitet: In den Gemeinden, in Schulen, in der Drogenberatung, in Kindergärten und Pflegeheimen - überall erlebte er freiwillige Helfer. Klar. Vielfach mussten die freiwilligen Helfer jene Löcher schließen, die der lückenhafte amerikanische Sozialstaat überall riss. Dennoch war Werner H. tief beeindruckt.
Dazu kam, dass dieses Engagement oft belohnt wird. Man erhält so genannte Credit-Points für Freiwilligenarbeit. Mit ihnen kann man eine Vielzahl von sozialen und kulturellen Dienstleistungen in der eigenen Gemeinde in Anspruch nehmen. Und noch wichtiger: Credit-Points wirken bei jeder Bewerbung um einen neuen Job oder um eine neue Wohnung wie ein Empfehlungsschreiben. Obwohl er an den vielen sozialen Ungerechtigkeiten der US-Gesellschaft viel auszusetzen hatte - in dieser Kultur von Engagement fühlte sich Werner H. wohl. Und er malte sich aus, wofür er sich unter diesen Bedingungen gerne engagieren würde. Die Wahl fiel ihm nicht schwer: für Pflegebedürftige. Schließlich hatte er durch die Pflege seiner Mutter erfahren, wie dringend sie auf jeden Besuch, auf jede freundliche Hand angewiesen waren. Doch kaum hatte er diesen Traum geträumt, rief ihn seine Bank im Jahre 2013 in die Heimat zurück.
In Deutschland angekommen, war er entsetzt. Inzwischen hatte die Arbeitslosigkeit die neue Schallgrenze von sechs Millionen Menschen überschritten. In bestimmten Stadtvierteln großer Städte breitete sich Elend aus. Die demografische Entwicklung hinterließ immer tiefere Spuren: Immer mehr Ältere standen immer weniger Jüngeren gegenüber. Schulen, Kindergärten, Pflegeheime, ja alle sozialen Dienste suchten händeringend nach Personal.
Schon dachte Werner H. über seine Rückkehr in die USA nach. Doch dann geschah, was er nicht mehr erwartet hatte. Nach den Wahlen im September 2014 kündigte die neu gewählte Regierung eine grundlegende Reform der Arbeits- und Sozialgesetze an. Ihr Kern war die Einführung eines so genannten Bürgergeldes: Ab 1. Januar 2016 konnten alle Bürger beim Finanzamt ein Bürgergeld von 800 Euro monatlich beantragen, wenn sie gegenüber dem Ausschuss für Bürgerarbeit nachwiesen, dass sie Kinder unter 16 Jahren erzogen, Familienmitglieder im eigenen Haushalt pflegten oder sich nachweislich eine bestimmte Zeit pro Woche für die Betreuung Behinderter oder Pflegebedürftiger engagierten. Das Bürgergeld wurde mit dem individuellen Einkommen verrechnet. Je mehr man über die Erwerbsarbeit verdiente, desto geringer war das Bürgergeld. Ab einem bestimmten Einkommen erhielt man kein Bürgergeld mehr. Außerdem achtete die Regierung darauf, dass bezahlte Stellen nicht durch Freiwillige ersetzt wurden.
Wie in Deutschland üblich, löste diese Reform eine heftige Diskussion ein. Doch nach und nach veränderte sie die Gesellschaft. Das Bürgergeld ermöglichte es vielen Menschen, ihre Arbeitszeit zu verkürzen und ihr Einkommen durch Bürger-Engagement aufzubessern. Jahrzehntelang hatten sich die Mauern zwischen Erwerbsarbeit und anderen Formen von Arbeit als undurchdringlich erwiesen. Jetzt wurden sie durchlässiger, weil das Bürgergeld die finanziellen Verluste begrenzte oder sogar ausglich. Auch ältere Menschen entdeckten die Vorteile des Bürgergeldes. Rentner engagierten sich wieder, weil ihr Engagement honoriert wurde. Sie waren wieder Teil der Gesellschaft, die sie zuvor aufs Altenteil verbannt hatte.
Über diese Entwicklung war auch die Regierung erleichtert. Hatten doch die Koalitionspartner mit großen Schwierigkeiten gerechnet und lange über die Finanzierung des Bürgergeldes gestritten. Sie waren sich alle einig gewesen, dass das Bürgergeld einige Sozialleistungen wie Erziehungs- oder Pflegegeld vollkommen ersetzen würde. Aber sie wussten auch, dass das nicht reichen würde. Doch die dramatischen Warnungen der Opposition vor einem riesigen Staatsdefizit bewahrheiteten sich nicht. Das Bürgergeld half nämlich, die Arbeitslosigkeit zu senken, weil Millionen Menschen ihre Arbeitszeiten verkürzten - und Platz machten für Arbeitslose. Dadurch sparte die Regierung Milliardenbeträge, mit denen sie das Bürgergeld bezahlen konnte. Das letzte finanzielle Risiko beseitigte eine so genannte Wertschöpfungsabgabe für alle Unternehmen. Auf diesen Begriff hatte man sich geeinigt, weil der immer stärkere Einsatz von Maschinen die Wertschöpfung der Betriebe in die Höhe trieb - aber auch die Arbeitslosigkeit. Warum sollten die Unternehmen also nicht einen kleinen Teil der Wertschöpfung durch Technik an den Staat abtreten, damit dieser mehr Geld in die sozialen Dienste für Menschen investieren konnte?
Diese Chance nutzte auch Werner H. Im Jahre 2016 ging er in seiner Bank auf Teilzeit. Endlich hatte er Zeit für jenes Engagement, das er sich in den Vereinigten Staaten ausgemalt hatte: Er verbrachte den Vormittag in der Bank - und die Nachmittage zumeist im Pflegeheim, um Alzheimer-Kranke zu betreuen, wie Maria Simons. Doch nicht nur Werner H. erfüllte sich seinen Traum von einem anderen Arbeitsleben. Deutschland erlebte eine Aufbruchstimmung, wie es sie lange nicht mehr gegeben hatte. Jetzt zeigte sich, dass die Menschen zu sozialem Engagement für andere Menschen bereit waren, wenn sie dafür finanziell honoriert wurden.
Werner H. fragte sich nur, warum all dies so lange gedauert hat. Dann jedoch erinnerte er sich an eine Bemerkung seines Sozialkundelehrers. Dieser hatte einmal eine Geschichte von einem ehemaligen Bundeskanzler namens Willy Brandt erzählt. Der war gefragt worden, wie viele Jahre vergehen, bis eine politische Idee Wirklichkeit werde. Brandts Antwort: mindestens 20 Jahre.
Wolfgang Kessler ist Wirtschaftspublizist und Chefredakteur der kirchenunabhängigen christlichen Zeitschrift "Publik-Forum". Zusammen mit Stephan Hebel gibt er das Buch "Zukunft sozial. Wegweiser für mehr Gerechtigkeit" heraus (Publik-Forum Verlag 2004).