Dass ein so vielschichtiges und in seiner Entwicklung nicht festgelegtes Gebilde die begriffliche und theoretische Phantasie der Politologen herausfordern musste, liegt auf der Hand. Die Europäische Integration ist längst zu einem eigenständi- gen Teilgebiet der Forschung avanciert, das immer größere Mengen an Literatur ausstößt und daher auch den Bedarf an synthetisierenden Überblicksdarstellungen steigen lässt. Die im Rahmen der "Münchener Beiträge zur europäischen Einigung" vorgelegte Arbeit der Juristin und Politologin Bettina Thalmaier verfolgt in diesem Sinne zwei Anliegen. Einerseits möchte sie klären, in welchem institutionellen Ist-Zustand sich die EU heute befindet. Zum anderen will sie auf dieser Basis Vorschläge für eine Weiterentwicklung des Institutionensystems unterbreiten, die das Legitimationsdefizit der europäischen Politik abbauen und die Gemeinschaft damit in eine bessere Zukunft führen.
Was die Bestimmung des Ist-Zustandes angeht, argumentiert die Autorin zu Recht, dass man die EU heute weder mit dem in der Forschung lange Zeit dominierenden föderalistischem Konzept, noch mit den später hinzutretenden funktionalistischen und intergouvernementalistischen Ansätzen adäquat erfassen kann. Die Darstellung der verschiedenen Ansätze mündet in ein zeitgemäßeres "New Governance"-Paradigma, das die Gemeinschaft als Mehrebenensystem und Regierungsform "jenseits der Staatlichkeit" begreift. Entsprechend mehrdimensional sind auch die zu stellenden Legitimitätsanforderungen. Diese können sich nicht mehr nur auf den Aspekt der Problemlösung und Wohlfahrtsproduktion beschränken, die bis in die 80er-Jahre hinein noch ausgereicht hatten, die Akzeptanz des Integrationsprojekts zu begründen, sondern schließen auch die Demokratisierung und die "soziale" Legitimität der EU mit ein.
Die institutionellen Reformvorschläge tragen dem Wesen der EU als "Herrschaftsverband eigener Art" Rechnung. Eine Verbesserung der Regierungsfähigkeit erhofft sich die Autorin von einer klareren Kompetenzabgrenzung zwischen der nationalen und supranationalen Ebene, was allerdings mit Blick auf ihre vorangehende Analyse nicht ganz einleuchtet, die ja gerade den Verbundcharakter der europäischen Politik betont. Eine Entflechtung würde gewiss für mehr Transparenz sorgen. Ob sie auch unter Effizienzgesichtspunkten nutzbringend wäre, scheint jedoch keineswegs ausgemacht. Wenig ergiebig sind auch die Vorschläge für eine Stärkung der sozialen Legitimität. Diese setzen auf eine bessere Vermittlung der europäischen Entscheidungsprozesse in die nationalen Öffentlichkeiten hinein, was aber eher Appellcharakter trägt und in der Umsetzung unklar bleibt.
Sehr viel handfester geraten da die Überlegungen zur Behebung des institutionellen Demokratiedefizits. Hier favorisiert die Autorin eine präsidentielle Demokratisierungsstrategie, sprich eine direkte Wahl des Kommissionspräsidenten durch die europäischen Bürger. Tatsächlich würde sich ein solcher Vorschlag in die quasi-präsidentielle Struktur des heutigen EU-Systems besser einfügen als die von den meisten Autoren vorgezogene parlamentarische Strategie, die eine Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament vorsieht. Zudem wäre dies ein geeigneter Schritt, die bisher noch überwiegend unter nationalen Vorzeichen stattfindenden europäischen Wahlen zu "europäisieren".
So plausibel die Reformvorschläge sind, verwundert es allerdings, dass deren Realisierungschancen in der Arbeit keine Rolle spielen. Sicher ist es legitim, Reformüberlegungen nicht primär oder ausschließlich an der Frage der Machbarkeit auszurichten. Gerade wenn man sich um ein realistisches Bild des Ist-Zustandes bemüht, hätte es aber nahegelegen, die voluntaristischen und interessenabhängigen Voraussetzungen einer Reform zumindest mitzubedenken. Dies gilt um so mehr, als sich in der auf 25 Mitglieder erweiterten Gemeinschaft das Gefälle zwischen den integrationsfreundlichen und -skeptischen Mitgliedern weiter vergrößert hat. Einen Ausweg aus diesem Dilemma könnte das Konzept unterschiedlicher Integrationsgeschwindigkeiten weisen, das in einigen materiellen Politikfeldern wie dem Euro bereits erfolgreich praktiziert wird. Dessen Übertragung auf die institutionelle Fortentwicklung würde schwierige Fragen aufwerfen, die in der Forschung bislang kaum adressiert worden sind. Auch in der vorliegenden Darstellung bleiben sie unberücksichtigt, obwohl diese Idee von maßgeblichen Politikern wie Joschka Fischer wiederholt ins Spiel gebracht worden ist.
Über diese inhaltliche Schwäche könnte man noch hinwegsehen, wenn nicht ein anderer Aspekt die Freude an der Lektüre trüben würde. So verdienstvoll die von der Autorin vorgenommene Analyse der EU als Herrschaftsverband eigener Art und die daran aufgehängte Differenzierung der verschiedenen Legitimationsstränge nämlich ist, so schnell wird der in der Europaforschung einigermaßen Kundige merken, dass diese Gedanken in ähnlicher Form bereits vom Bonner Politologen Marcus Höreth in seiner wegweisenden Studie über das "Legitimationstrilemma" der EU vorgetragen wurden, deren Erscheinen inzwischen sieben Jahre zurückliegt. Dass die Autorin, die ausweislich ihres Lebenslaufes neben ihrer Promotion als Anwältin für Patentrecht tätig war, die vollständige Übernahme von Höreths Konzeption in ihrer Arbeit nirgendwo kenntlich macht, ist mehr als nur eine lässliche Sünde.
Bettina Thalmaier
Die zukünftige Gestalt der Europäischen Union. Integrationstheoretische Hintergründe und Perspektiven einer Reform.
Münchener Beiträge zur europäischen Einigung, Bd. 11.
Nomos, Baden-Baden 2005; 475 S., 69,- Euro