Gleich 80 europäische Städte nehmen für sich in Anspruch, der mythisch-geografische Mittelpunkt Europas zu sein. 40 allein in Deutschland. Die Mitte Europas, so darf man folgern, ist ganz offensichtlich eine Frage der Perspektive.
Filme wie der Muchas lassen ahnen, wie es um Europa bestellt ist: Es ist ein Europa auf der Suche, interessant und überraschend vor allem an seinen Rändern und Zwischenräumen. Es ist ein Europa, dem nichts so richtig sicher scheint. Nicht einmal die Sterne auf dem blauen Europateppich, den Mucha für den Trailer seines jüngsten Films "Reality Shock" von zwei Polen mit Teppichklopfern bearbeiten lässt, bis sie in den Dreck fallen.
Muchas dokumentarisch-humoristische Suche nach dem Mittelpunkt Europas kann durchaus als Metapher gelten für die europäische Sinnfrage: Gibt es eine europäische Identität? Ja, wird man spontan antworten. Man darf, kann und soll sich als Europäer fühlen. Aber es existieren so viele Arten, dies zu tun, wie es imaginäre Mitten in Europa gibt. Und je mehr debattiert wird, je mehr Thesen im Umlauf sind, desto fraglicher wird die Existenz dessen, was man eine europäische Identität nennen könnte, desto mehr beruft man sich auf Differenzen, auf das Heterogene der Kulturen, um dieses Besondere, das Europäische zu definieren.
Allein die Tatsache, dass so viel diskutiert wird, beweist: Wir sind noch auf der Suche. Bereits vor mehr als zehn Jahren, als feierlich die "Charta der europäischen Identität" beschlossen wurde, formulierte einst Václav Havel: "Deswegen erscheint mir, dass die wichtigste Anforderung, vor welche die Europäische Union sich heute gestellt sieht, in einer neuen und unmissverständlich klaren Selbstreflexion besteht, was man unter europäischer Identität verstehen könnte, in einer neuen und wirklich klaren Artikulation europäischer Verantwortlichkeit, in verstärktem Interesse an einer eigentlichen Sinngebung der europäischen Integration und aller ihrer weiteren Zusammenhänge in der Welt von heute, und in der Wiedergewinnung ihres Ethos oder - wenn Sie so wollen - ihres Charismas."
Gut zehn Jahre später ist von Charisma immer noch nichts zu spüren. Im Gegenteil. Man könnte sagen: Noch nie hatte Europa so wenig Sexappeal wie augenblicklich. Nicht erst seit dem Nein zur Verfassung in Frankreich und den Niederlanden scheinen die Sterne zu Boden zu rieseln.
Jean Monnet, Vordenker der Union, soll bekanntlich gesagt haben, wenn er noch mal von vorne anfangen könnte, würde er mit der Kultur beginnen. Doch trotz der Einsicht, dass weder der gemeinsame Binnenmarkt noch der Euro so etwas wie Charisma für die Bürger der Union haben, wird die Kultur von Brüssel nach wie vor als überflüssiger Luxus behandelt. Ganze sieben Cent pro Einwohner fließen jährlich aus Brüssel in das gemeinsame Kulturprogramm. Insgesamt sind es 35 Millionen Euro, also nicht einmal ein Prozent des Gesamthaushaltes, der zu 45 Prozent die Landwirtschaft finanziert.
Es kann nicht darum gehen, dass Brüssel finanzieren soll, was sich die Nationalstaaten nicht mehr leisten wollen. Und selbstverständlich blüht das, was man die europäische Kultur nennen könnte, auch jenseits europäischer Fördertöpfe. Aber das Missverhältnis sollte dennoch zu denken geben, zumal dann, wenn der schöne Satz Jacques Delors' zitiert wird: "In einen Binnenmarkt kann man sich nicht verlieben."
Europa, so hatte Delors geschlossen, brauche eine Seele. Nur kann man eine Seele nicht verordnen. Grenzen, Zölle und Währungen sind gefallen, die Sprachbarrieren sind noch weit davon entfernt. Ein deutscher Roman hat selbstverständlich nicht den Markt, den ein amerikanischer hat. Selbst die französische Filmindustrie, Hochburg der "kulturellen Ausnahme" und Trutzburg gegen amerikanische Leitkultur und Hollywood, die mehr als jede andere von staatlicher Seite gefördert wird, exportiert sich mittlerweile fast genau so stark in die USA wie in die europäischen Nachbarländer.
Und dennoch gibt es eine europäische Dimension der Kultur: Wenn beispielsweise der Belgier Gerard Mortier, der viel in Deutschland und Österreich gearbeitet hat, als Intendant der Pariser Oper das biedere Publikum mit Inszenierungen von Michael Haneke oder Christoph Marthaler schockiert; wenn sich ein deutscher Autor wie Botho Strauß über das Stück eines berühmten englischen Dramatikers, in diesem Fall Shakespeare, macht und es ein Schweizer Regisseur wie Luc Bondy, der in Deutschland wie in Frankreich zu Hause ist, in Paris in einer Skandalinszenierung auf die Bühne bringt; wenn sich derselbe Schock in der Berliner Inszenierung von Thomas Langhoff wiederholt. Dann geschieht Europa. Dann ahnt man, was Charisma bedeuten könnte.
Europa heißt auch: Dem Plan der US-Firma Google, das schriftliche Kulturerbe der Menschheit nach kommerziellen Gesichtspunkten zu digitalisieren, eine nichtkommerzielle Initiative entgegenzusetzen und gemeinsam in eine digitale Bibliothek Europas zu investieren. Europa ist auch eine neue Form des europäischen Kulturtourismus. Niemand, so sagte kürzlich der italienische Skandalfotograf Oliviero Toscani, fahre nach Rom, Wien, Salzburg, nach Madrid oder Paris, um sich Banken oder Versicherungen anzuschauen. Die Europäer sind neugierig aufeinander und schreiten ihren neuen und alten Kulturraum ab. Sie wollen das Guggenheim-Museum in Barcelona sehen, eine Inszenierung der Salzburger Festspiele, die "Caravaggio-Rembrandt"-Austellung in Amsterdam, ja auch das Opernspektakel in Verona.
Man könnte einwenden, dass diese europäische Kultur eine elitäre ist. Aber man darf nicht vergessen, dass diese Elite im ständigen Wachstum begriffen ist und längst Menschen einschließt, die noch vor gar nicht allzu langer Zeit sozial, politisch oder auch nur geographisch von Europa ausgeschlossen waren. Zudem sind die großen Kulturevents nur der sichtbare Ausdruck kulturellen Austauschs auf höchster Ebene. In einem System von "Stars und Sternchen" findet europäische Kultur in kleinen, täglichen und namenlosen Begegnungen statt.
Timothy Garton Ash, der britische Historiker und Politologe, der von sich behaupten kann, er lebe in Oxford, Stanford und in Flugzeugen, hat unlängst beklagt, dass es nicht einmal so etwas wie eine europäische Öffentlichkeit gebe. Selbst "Lettre International" sei zwar ein kühner Versuch gewesen, einen europäischen Raum der Verständigung zu schaffen, der aber nur zu sehr unterschiedlichen Ausgaben in unterschiedlichen Sprachen geführt habe.
Ash irrt. Er selbst, der perfektes Deutsch spricht und ein gern gesehener Gast auf internationalen Podien ist, darf als Gegenbeweis für das Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit gelten. Tatsächlich gibt es so viele Podiumsdiskussionen, Kolloquien, Seminare zum Thema, dass man fürchten muss, Europa sei nichts weiter als ein Debattierclub. Aber auch das sollte man positiv wenden: Europäisch ist, sich diskursiv auseinander zu setzen, sich anzunähern, wieder zu entfernen, sich gemeinsam zu suchen.
Auch die Europa-Initiative von Jürgen Habermas und Jacques Derrida darf als Beleg für die Existenz einer europäischen Öffentlichkeit gelten. Beide Philosophen haben vor bald drei Jahren ein leidenschaftliches Plädoyer für die "Wiedergeburt Europas" zeitgleich in verschiedenen großen europäischen Zeitungen lanciert. Nicht nur das. In diesem Plädoyer machen Habermas und Derrida in den Massendemonstrationen gegen den Irakkrieg, die gleichzeitig in London, Rom, in Madrid und Barcelona, in Berlin und Paris stattfanden, einen europäischen Neubeginn aus: "Die Gleichzeitigkeit dieser überwältigenden Demonstrationen", so schrieben Habermas und Derrida, "könnte rückblickend als Signal für die Geburt einer europäischen Öffentlichkeit in die Geschichtsbücher eingehen." Sollte die Schicksals- und Wertegemeinschaft, als die Europa gerne apostrophiert wird, doch einen gemeinsamen, irreduziblen Nenner haben, der sich Frieden nennt? Europa ist die Geschichte blutiger Kriege, die Europäische Union ihre außerordentliche Fortsetzung als Friedensgeschichte. Ein gemeinsamer Erinnerungsraum. Ein runder Tisch der Konfliktlösung, der immer größer wurde, um den herum immer mehr Teilnehmer Platz nahmen, denen der Frieden mehr und mehr zur Selbstverständlichkeit wurde. Insofern ist das europäische Projekt, wie es Ash formuliert, ein Opfer seines eigenen Erfolgs. Doch alle Tischnachbarn teilen bestimmte Werte und Überzeugungen: die von Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Gleichheit vor dem Gesetz, Respekt vor der Würde des Menschen, von sozialer Gerechtigkeit und Toleranz.
Europäer zu sein, heißt nicht, zu einer bestimmten Ethnie, Religion oder Kultur zu gehören. Was Europa auszeichnet, ist der tolerante Umgang mit Religionen, Religiosität und anderen Kulturen im öffentlichen Leben. Beim Versuch, Europas Identität zu bestimmen, wird nach klassischem Muster gerne nach dem anderen gefragt, nach dem, wovon es sich unterscheidet. Ist der Gegenentwurf tatsächlich der Islam, wie immer häufiger behauptet wird und was auch als Hauptargument gegen eine Aufnahme der Türkei spräche? Nein. Schlicht und einfach, weil der Islam längst Teil Europas ist. Er ist präsent in Form der 15 Millionen Moslems, die bereits in der Europäischen Union leben; in Form des Terrorismus oder, wenn man so will, in den Mitteln seiner Bekämpfung; und - jüngstes Beispiel - in Form des Karikaturenstreits. Letzteren darf man durchaus als europäischen Lackmustest werten. Wie er ausgetragen oder gelöst wird, könnte zukünftig maßgeblich zur Stärkung oder Schwächung Europas beitragen. Er veranlasst die Europäer nämlich, sich auf Werte wie Toleranz und Freiheit zu besinnen, sie aber gleichzeitig zu hinterfragen und ihre Grenzen auszuloten. Was Europa und europäische Identität kennzeichnet, das hat dieser Streit überdeutlich gezeigt, ist nicht nur die Bereitschaft, sich mit dem anderen auseinanderzusetzen; es ist auch der Mut, die eigenen Werte zu verteidigen.
Martina Meister ist Kulturkorrespondentin der "Frankfurter Rundschau" in Paris.