Was sich am Reißbrett in Brüssel leicht skizzieren lässt, stößt sich im Alltag oft an harten Realitäten. Im Nahen Osten müht sich die EU schon seit langem bei vielen Vermittlungsmissionen, zwischen Israelis und Palästinensern den Friedensprozess voranzubringen. Doch guter Wille allein, das zeigt dieser Praxistest der EU-Außenpolitik, genügt nicht. Im Interessenclinch vor Ort können die Brüsseler Diplomaten auch zwischen die politischen Fronten geraten. Aktuell liefert der Wahlsieg der Hamas neuen Zündstoff.
Die nächste Hürde für die EU markiert der 28. März, wenn in Israel Parlamentswahlen stattfinden. Der Spielraum Brüssels im Nahen Osten könnte größer werden, falls sich nach dem Urnengang die neue Partei "Kadima" unter Ehud Olmert mit der Arbeitspartei verbünden sollte. Unter einer solchen Regierung stünden die Chancen für eine proeuropäische Politik gut, meint Avi Primor, früherer Botschafter in Deutschland und Leiter des Instituts für Europa-Studien in Herzliya.
Schon 2005 deutete sich eine Entspannung im bislang schwierigen Verhältnis zwischen Jerusalem und Brüssel an. Und als im Februar EU-Chefdiplomat Javier Solana mit Ministerpräsident Olmert zusammentraf, ging es freundlich und vertrauensvoll zu. Mittlerweile hat sich in Israel die Einsicht durchgesetzt, dass Brüssel an außenpolitischem Gewicht gewonnen hat.
Lange aber stand Brüssel bei der Jerusalemer Politik im Ruf, einseitig eine propalästinensische Politik zu betreiben und mit Finanzhilfen für die Palästinenser den Terrorismus zu fördern. Da schlug Premier Ariel Scharon seinem Gast Solana schon mal die Tür vor der Nase zu, weil dieser kurz zuvor dem verstorbenen Palästinenserpräsidenten Jassir Arafat die Hand geschüttelt hatte. Noch im Oktober 2004 warnte ein internes Strategiepapier des israelischen Außenministeriums, dass ein Erstarken der EU in den nächsten Jahren die weltweite Isolation Jerusalems bewirken könnte. "Die Fortsetzung des israelisch-palästinensischen Konflikts könnte Israel in eine Konfrontation mit der Europäischen Union führen", zitierten Medien aus dieser Lageeinschätzung. Das Geheimpapier zeigte das in Israel verbreitete Misstrauen gegenüber der EU. Die leidvolle Geschichte jahrhundertelanger Judenverfolgung in Europa hat sich ebenso tief in das historische Bewusstsein eingegraben wie der Schrecken des Holocaust. Dieser Schatten der Erinnerung prägt bis heute die Wahrnehmung der EU-Politik und beeinflusst auch Jerusalems Außenpolitik gegenüber Brüssel. Andererseits sehen viele Bürger Israels Europa auch positiv. So tragen bereits über 100.000 Israelis den Zweitpass eines EU-Landes in der Tasche, was ihnen Reisen in alle Teile der Welt erleichtert. Selbst über einen EU-Beitritt des Landes wird in der Öffentlichkeit zuweilen diskutiert, wobei indes unberücksichtigt bleibt, ob Israel als Beitrittskandidat überhaupt in Frage käme.
Traditionell zählen im Nahen Osten allein die USA als außenpolitischer Faktor von Gewicht. Dies galt und gilt vor allem für Sicherheitsfragen. So erschien es Brüsseler Diplomaten geradezu als Kehrtwende israelischer Politik, als Regierungschef Scharon nach dem Abzug aus Gaza im Herbst eine Stationierung von EU-Beobachtern als Lösung für den umstrittenen Grenzübergang Rafah im Süden des Gazastreifens akzeptierte. Der damalige Außenminister Silvan Schalom sprach von einer historischen Entscheidung, die ein neues Vertrauen in Europa spiegele. Die Zeitung "Haaretz" schrieb, Israel gestehe der EU erstmals eine größere Rolle im Nahost-Konflikt zu.
Avi Primor zeigt sich dagegen skeptisch: "Ich glaube, dass man sich in Brüssel Illusionen macht." Seiner Ansicht nach hat sich die Grundlage israelischer Politik gegenüber Brüssel keineswegs gewandelt. US-Außenministerin Condoleezza Rice habe gegenüber Scharon eine Regelung für Rafah erzwungen und die Europäer auf diese Weise erst ins Spiel gebracht, analysiert Primor. Unverändert spielten in Nahost die USA die Hauptrolle. Das Verhältnis zur EU dagegen durchlaufe unterschiedliche Phasen, in denen die europäische Öfffentlichkeit Israel mal mehr und dann mal weniger kritisch gegenüberstehe. Primor: "In den Jahren der Intifada gab es viel Kritik an Israel, und während des Gazaabzugs hat sich die Stimmung verändert." Jede Kritik werde in Israel gern als israelfeindlich gewertet. "Die USA unterstützen uns eben bedingungslos, die Europäer tun das etwas ausgewogener", sagt Primor. Wie es künftig weitergehe, werde deshalb vor allem von Jerusalems Politik gegenüber den Palästinensern abhängen. Viele Palästinenser zeigen sich ihrerseits enttäuscht, dass sich die EU aus Sorge um gute Beziehungen zu Jerusalem der Kritik an der israelischen Besatzungsmacht immer stärker enthält. So distanzierte sich Brüssel von einem vertraulichen Bericht der EU-Diplomaten in Jerusalem und Ramallah und veröffentlichte diese Expertise nicht. In dem Papier hatten die EU-Vertreter vor Ort Israels Annexion von Ostjerusalem und den Siedlungsausbau rund um Jerusalem angeprangert. Auch zur Erweiterung jüdischer Siedlungen im Westjordanland, zur Sperrung des Jordantals für Palästinenser oder zum Mauerbau, der das Entstehen eines lebensfähigen Palästinenserstaats in der Zukunft stark in Frage stellt, schweigt Brüssel bisher. Eine solche Zurückhaltung kann die Glaubwürdigkeit der EU als eines ehrlichen Maklers in Nahost gefährden. Der Wahlsieg der Hamas darf bereits als Misserfolg europäischer Politik gegenüber den Palästinensern gelten. Die Protestwähler straften die regierende Fatah-Bewegung aber auch für die verbreitete Korruption ab, die sich vor allem aus üppigen Brüsseler Finanzhilfen speiste. Die EU-Staaten führen die Hamas schon seit Jahren auf ihrer Terrorliste, was Brüssel nun den Spielraum verbaut, mit dem Wahlsieger überhaupt ins Gespräch zu kommen. Die EU-Diplomaten vor Ort suchen jetzt nach Auswegen aus der Sackgasse. Es bleibt bislang auch unklar, wie die Europäische Union die palästinensische Bevölkerung unterstützen will, ohne die Isolationspolitik gegenüber der nun regierenden Hamas aufzugeben. Die europäische Außenpolitik steht daher in Nahost vor einer großen Bewährungsprobe.
Gemma Pörzgen ist Korrespondentin der "Stuttgarter Zeitung" in Israel.