Von "Mon Trésor" weht ein Duft herüber wie von Karamell und heißen Artischocken. Mit bedächtigen Bewegungen schlägt die 57-jährige Nidhendra Soowamber mit ihrer Machete das Rohr auf einem Feld nahe der Zuckerfabrik. Sie ist klein und dick, Schweiß rinnt unter ihrem zerfetzten Jeanshut hervor. Doch sie macht die Arbeit gern. Um elf, wenn es richtig heiß wird, kann sie zurück nach Hause und ihren Mann bekochen, der seit einem Unfall vor fünf Jahren nichts mehr verdient. Seither kommt Nidhendra als Tagelöhnerin auf den Feldern der Nachbarn unter. Mit 130 Rupien pro Erntetag ist sie nur halb so teuer wie ein Mann. Außerdem wollen alle im Dorf helfen, dass die Familie über die Runden kommt.
Vom Zuckererlös aus Europa hängt auf Mauritius ein fein abgestimmtes Sozialgefüge ab. Das Land gehört zur Gruppe der afrikanisch-karibisch-pazifischen Staaten, der so genannten AKP-Länder. Sie dürfen jährlich 1,4 Millionen Tonnen Rohzucker zollfrei in die EU einführen. Damit profitieren sie vom EU-internen Preis, der derzeit drei Mal so hoch ist wie der Erlös auf dem Weltmarkt. Mauritius hält von der begehrten EU-Quote für Rohzucker 40 Prozent, was 35 Prozent der gesamten Exporterlöse des Landes ausmacht. Nun sollen die Preise um 36 Prozent gekürzt werden. Die kleinen Pflanzer auf Mauritius können dann nicht mehr mithalten, Nidhendra wird arbeitslos. Arvin Boolell, der Landwirtschaftsminister von Mauritius, ist Sprecher der Zuckergruppe der AKP-Staaten. Er ist in Brüssel ein häufig gesehener Gast. "Es gibt keinen besse-ren Mechanismus für Entwicklung durch Handel als das Zuckerprotokoll", sagt Boolell. Fast die Hälfte seiner 2.000 Quadratkilometer großen Insel wird landwirtschaftlich genutzt. Doch nur Zuckerrohr widersteht den jähr-lichen Stürmen. Alle Versuche, die Monokultur aufzulösen und die Abhängigkeit vom Zuckerexport zu beenden, sind gescheitert. Schade, dass Bernhard Conzen den Minister nie kennen lernen wird. Zu erzählen hätten sich die beiden eine ganze Menge. Conzen besitzt einen 400 Jahre alten bäuerlichen Betrieb in der Jülicher Börde. 2.000 Tonnen Zuckerrüben erntet er jedes Jahr, das bringt 48.000 Euro Gewinn. Für den praktizierenden Katholiken ist die Landwirtschaft kein Job wie jeder andere. "Ich sehe einmal im Jahr einen ganzen Lebenszyklus." Sein Sohn Christian hat das Gespür für den Boden geerbt. "Der kann es unterm Gummistiefel fühlen, ob der Acker gut ist", sagt sein Vater stolz.
Doch wenn der Rübenpreis nun innerhalb von drei Jahren um knapp 40 Prozent sinkt, wird er ihn nicht in der Landwirtschaft lernen lassen, sondern er soll Banker werden. Dann fressen die Energiekosten, die Löhne und die teuren Maschinen den Gewinn auf. Mit den riesigen Zuckerrohrflächen in Brasilien können die ungünstig geschnittenen Felder in der zersiedelten rheinischen Landschaft nicht konkurrieren.
Die knapp 50.000 Rübenbauern gehören in Deutschland zu den reichsten Landwirten. Die Stützpreise für andere Früchte wurden ja bereits drastisch reduziert und die Zahlungen von der Produktionsmenge entkoppelt. Pro Hektar Weizen bleiben dem Bauern nach Abzug der Kosten etwa 150 Euro, pro Hektar Rüben das Zehnfache. Wegen der hohen Gewinnspanne investierte die Branche bis in die 80er- Jahre in teure Maschinen und ertragsteigernde Techniken. Nach Schätzung der Verbände müssen zwei Drittel der Höfe dort aufgeben. Die Jülicher Börde ist eine flache Gegend, wo Legohäuschen aus rotem Klinker die Landschaft beherrschen und der Kreisverkehr mit Stiefmütterchen dekoriert ist. "Das sind die fruchtbarsten Böden der Welt", sagt Conzen stolz. Seinen Maschinenpark wartet er selber, den Grubber, die Maus und den 150.000 Euro teuren High-Tech-Mäher. Im Spätherbst haben die Laster und Trecker nur ein Ziel: Sie bringen ihre empfindliche Fracht in die Zuckerfabrik nach Jülich. "Die Zuckerrübe ist sehr sensibel", sagt Conzen ernst. "Kalte Nächte, warme Tage - das mag die Rübe gern."
Das Zuckerrohr hingegen ist ein robustes Gewächs. Als 1945 ein Zyklon, wie Hurrikane im indischen Ozean genannt werden, über Mauritius fegte, wurde die Maisernte auf den Plantagen völlig zerstört. Der Zuckerertrag ging in diesem Jahr um mehr als die Hälfte zurück, doch die Pflanzungen erholten sich wieder. Seit über hundert Jahren suchen die Agraringenieure im Institut für Zuckerforschung unter der Leitung französischer, dann britischer, schließlich indischstämmiger Direktoren nach marktfähigen Alternativen. Doch die Zyklone, die mehrmals jährlich über die Insel toben, machen alles platt. Orchideen, Broccoli, Kürbis - alles haben sie hier ausprobiert, seit klar ist, dass die Preise für Rohzucker drastisch fallen werden. Doch nur das Zuckerrohr hält den Stürmen Stand.
Mannshohe Pflanzen soweit das Auge reicht. Fast die Hälfe der Inselfläche ist mit Zuckerrohr bedeckt. Wer mit Zucker zu tun hat, entwickelt eine Liebe zur Geschichte. Das liegt wohl daran, dass das "weiße Gold" früher knapp, begehrt und teuer war. Schon im 17. Jahrhundert brachten holländische Siedler das Zu-ckerrohr von Java nach Mauritius. 1919 vereinbarte das Land das erste Zuckerabkommen mit den britischen Kolonialherren. "Nicht wir haben das Zuckerrohr gewählt. Der Zucker hat sich Mauritius ausgesucht", sagt Arvin Boolell.
50 Jahre später schloss Großbritannien mit seiner ehemaligen Kolonie Mauritius ein Handelsabkommen, das dafür sorgen sollte, dass der Fünf-Uhr-Tee immer ausreichend gesüßt sein würde - zu vertretbaren Prei-sen. Niemand neidete Mauritius damals das Lieferprivileg, denn auf dem Weltmarkt waren viel höhere Erlöse zu erzielen als sie das Zuckerabkommen vorsah. Dieses Abkommen brachte Großbritannien 1975 beim Beitritt zur Europäischen Union mit in die Ehe. Mauritius wählte den niedrigen, aber garantierten Preis für Rohzucker, andere AKP-Staaten ließen sich von der Goldgräberstimmung auf dem Weltmarkt anstecken und verzichteten auf eine EU-Zuckerquote. Dreißig Jahre später hat die EU die Vertragsgrundlage nun geändert, denn die Situation auf dem Weltmarkt hat sich vollständig gewandelt.
Ebenso wie in der Jülicher Börde machen auch auf Mauritius die Brasilianer mit ihren billigen Löhnen und den hochtechnisierten Methoden das schöne Zuckergeschäft kaputt. Inzwischen produziert Brasilien Zuckerrohr auf riesigen Flächen zu deutlich günstigeren Herstellungskosten als sie in Mauritius oder bei den Rübenbauern der EU möglich sind. Zum Vergleich: Während Mauritius 72.000 Hektar Zuckerrohr bewirtschaftet, sind es in Brasilien 90 Millionen Hektar. Unter dem gestiegenen Ölpreis leiden alle gleich. Aber die Lohnkosten sind in Europa und Mauritius viel höher als in Brasilien. Außerdem werden für die kleinteiligen Felder mehr Arbeiter gebraucht. In Mauritius kommen Bodenprobleme mit dem felsigen Vulkangrund und hohe Bewässerungskosten hinzu.
Die Globalisierung hat Mauritius erwischt, sie wütet schlimmer als ein Zyklon. Erst wurde der Textilmarkt für die Billigkonkurrenz aus Asien geöffnet, jetzt ist der Zuckermarkt an der Reihe. Die Arbeitslosigkeit stieg in den letzten fünf Jahren von acht auf elf Prozent. Um den Wettlauf gegen die sinkenden Preise zu gewinnen, müssen sie hier genau das zerstören, was sie eigentlich bewahrenswert finden: Die Kulturlandschaft und ein soziales Gefüge, in dem Inder, Chinesen, Schwarze und alte europäische Pflanzerfamilien nach unruhigen Zeiten nun friedlich nebeneinander leben.
Ein Viertel der 1,2 Millionen Einwohner hängt direkt oder indirekt von der Zuckerproduktion ab. Mit dem Gewinn hat die Regierung ein vorbildliches Sozialsystem aufgebaut. Die Zuckerproduktion sorgt für Jobs, Wohnungen, medizinische Betreuung, Kindergärten und Schultransport sowie für großzügige Sozialgesetze.
Parbotia Rakess bewirtschaftet sein kleines Stück Land schon in dritter Generation. Er kommt nur über die Runden, weil seine Frau in Port Louis eine Anstellung als Sekretärin hat. Glaubt er, dass auch seine Kinder noch auf diesen Feldern arbeiten werden? Der junge Schwarze lacht traurig. "Kinder können wir uns nicht leisten." 2.000 Rupies, gut 80 Euro, verdient er im Monat mit dem Zuckerrohr. Dazu kommt das Gehalt seiner Frau, 3.000 Rupies. Wollten sie zum Beispiel zwei Kinder auf gute Schulen schicken, bräuchten sie monatlich das Dreifache. 35.000 Kleinbauern leben auf Mauritius heute noch ganz oder teilweise vom Zuckeranbau. Ihre winzigen Parzellen, oft kleiner als ein Hektar, sind schon jetzt nicht mehr rentabel. Um eine weitere Verschärfung der Lage zu verhindern, fordert Landwirtschaftsminister Arvin Boolell von Brüssel höhere Übergangshilfen: "Sonst bekommen wir einen sozialen Aufstand", sagt er. Die EU-Kommission hat für alle AKP-Staaten 190 Millionen Euro pro Jahr angeboten. Boolell hält 500 Millionen Euro pro Jahr für erforderlich, damit die betroffenen Länder die Umstellung schaffen können. Mauritius stellt sich den Herausforderungen der Globalisierung. Im Bertelsmann-Transformation-Index für 2006 belegt es den Spitzenplatz als am besten regiertes Entwicklungsland. Um die Abhängigkeit von Zuckerexporten zu mindern, werden der Tourismus und die IT-Branche ausgebaut. Um die Produktionskosten bei der Zuckerherstellung zu reduzieren, wird massiv in computergestützte Bewässerungsanlagen, Flurbereinigung und Rationalisierung investiert. Von elf Zuckermühlen sollen bis 2008 nur sechs übrigbleiben. Sie erfüllen europäische Umweltstandards, decken ihren eigenen Energieverbrauch aus den Abfallprodukten der Zuckerherstellung und produzieren zusätzlich Biostrom. Eine moderne Ethanolfabrik soll ab Ende 2006 Industriealkohol und Biotreibstoff aus Zuckerrohr herstellen. Doch auch deren Produktionspotenzial wirkt angesichts einer Produktionsmenge von 27 Milliarden Litern in Brasilien und 14 Milliarden Litern in den USA in diesem Jahr wie ein Tropfen auf den heißen Stein. In Jülich stehen sie am Feldrand neben der 250.000 Euro teuren Maus, mit der die Rüben in die Hänger befördert werden. Sie überlegen, wie es nun weitergehen soll. "Wenn ich vernünftig denken würde, ließe ich die Finger davon", sagt der junge Gregor Zdriliak, der demnächst die Tochter eines Rübenbauern heiraten will. Und sein älterer Nachbar Ripphaus kommentiert melancholisch: "Es macht keinen Spaß mehr. Das einzige, was noch gut lief, war doch die Zuckerrübe." Er habe nur zwei Zwillingsmädchen, erklärt Ripphaus ernst. Am Stammtisch werde er deshalb oft bedauert. "Aber wer will sich da ernsthaft noch einen Jungen anschaffen, wofür denn, als Hofnachfolger vielleicht?"
1801 wurde in Niederschlesien die erste Zuckerfabrik gebaut. Erst 50 Jahre zuvor hatte ein deutscher Wissenschaftler entdeckt, dass aus Rübensaft die gleichen Kristalle gewonnen werden können wie aus dem Zuckerrohr. Wenn es kommt, wie in Brüssel geplant, dann müssen auch hier im Rheinland zwei Drittel der Betriebe dichtmachen, davon ist Bernhard Conzen überzeugt. Nachdenklich schaut er auf die lange Reihe Trecker und Rübenlaster, die an der Waage Schlange stehen. "Dann ist hier in zehn Jahren nur noch Wald." Nah am Äquator wird es früh dunkel. In den Dörfern sind die Tempelchen vor den weiß gekalkten Häusern erleuchtet. Im Vorbeifahren gelingt ein Blick in einen kerzengeschmückten Innenhof. Fröhliche Frauen in bunten Saris sind unterwegs, um Divali zu feiern - den Sieg des Guten über das Böse, Dank für Wohlstand und für eine gute Ernte. In Jülich macht sich Ripphaus mit den Zwillingen auf den Weg zum Martinszug.
Daniela Weingärtner ist Korrespondentin der Wochenzeitung "Das Parlament" in Brüssel.