Sichtbar wurde dieses Problembewusstsein beim Konflikt um die EU-Dienstleistungsrichtlinie: Ohne das Wohlstands- und Lohngefälle zu den neuen Mitgliedsländern hätte der Versuch, die im EU-Vertrag seit langem festgeschriebene Dienstleistungsfreiheit auch in der Praxis durchzusetzen, keinen derart heißen Streit entfacht. Während Brüssel inzwischen Aufnahmeverhandlungen mit der Türkei und Kroatien begonnen hat und der Beitritt von Rumänien und Bulgarien bevorsteht, nimmt die Verunsicherung der EU-Bürger zu: Nach wie vor ist nicht erkennbar, in welche Richtung sich die EU entwickelt und wo die Grenzen der EU in Zukunft liegen werden. Eine wachsende Zahl von Menschen in den alten EU-Staaten betrachtet deshalb die Erweiterungspolitik mit Skepsis. Fast zwei Drittel der Deutschen, so eine Eurobarometer-Umfrage vom Herbst, lehnen die Aufnahme von weiteren Ländern in die EU auf absehbare Zeit ab. Nur noch jeder Fünfte kann sich eine EU-Mitgliedschaft der Türkei vorstellen.
Auch im Straßburger Parlament versteift sich der Widerstand gegen eine EU-Ausdehnung, die sich als Hindernis für die Vertiefung der europäischen Integration erweisen könnte: Da die Ratifizierung der Verfassung und damit die Reform der Institutionen wie der Entscheidungsmechanismen in der Sackgasse stecke, monieren die Kritiker, sei auf absehbare Zeit die interne Voraussetzung für eine zusätzliche Erweiterung entfallen. Ohne die Verfassung drohe die Union ihre Handlungsfähigkeit zu verlieren, warnte die Straßburger Volksvertretung jüngst in einer Resolution. Die Aufnahmefähigkeit der EU sei nach dem Beitritt der Rumänen und Bulgaren zunächst erschöpft. Ohne die Verfassung, so das Verdikt des Parlaments, dürfe es keine neue Erweiterung geben.
Doch während die einen die Krise der EU beklagen, sehen die anderen im Scheitern der Verfassungsreferenden die Chance, um über Ziele und Grenzen der Union vertieft nachzudenken. Bisher habe es sich bei den Aufnahmerunden nicht um eine "Erweiterung", sondern um die Vereinigung Europas gehandelt, sagt Daniel Cohn-Bendit, Fraktionsvorsitzender der Grünen. Nach dem Fall der Mauer und dem Ende der Ost-West-Teilung konnten die neuen europäischen Demokratien im Osten geradezu einen politisch-moralischen Anspruch auf Beitritt zur EU geltend machen. Die Osterweiterung 2004 war deshalb im Grundsatz unumstritten. Der politische, wirtschaftliche und kulturelle Zugewinn für alle Seiten ist ungeachtet der Kritik am Tempo oder an der Ausgestaltung der Aufnahmemodalitäten offensichtlich. Die neuen Mitgliedsländer im Osten sind zum Wachstumsmotor der EU geworden. Nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch sind die Staaten in dem riesigen Raum zwischen dem Baltikum und der Adria durch die Integration in die Union der europäischen Demokratien stabilisiert worden. Und dies zu moderaten Kosten: Bis heute hat die EU für die zehn neuen Mitglieder insgesamt lediglich knapp 45 Milliarden Euro ausgegeben.
Ähnliche Auswirkungen erwarten Optimisten auch von künftigen Erweiterungen. Die Aufnahme der Balkanländer oder der Türkei, so die Hoffnung, werde nicht nur das Wirtschaftswachstum durch die Erschließung neuer Märkte beflügeln: Dieser Schritt werde auch zur ökonomischen und politischen Stabilität der betreffenden Nationen und damit des gesamten Kontinents beitragen. Die Anwälte einer EU-Vollmitgliedschaft Ankaras wie etwa Ex-Außenminister Joschka Fischer argumentieren vor allem strategisch-politisch: Die Stabilisierung des Nato-Partners an der Südostflanke, die Demokratisierung und "Europäisierung" eines moslemischen Staats sei unverzichtbar für die Sicherheit Europas. Eine in die EU eingebundene, wirtschaftlich prosperierende und politisch gefestigte Türkei könne zum Vorbild für die Region und zur "Brücke in die islamische Welt" werden.
Die Gegner einer grenzenlosen EU-Erweiterung und der Vollmitgliedschaft der Türkei warnen dagegen vor einer "Überdehnung". Die Union sei nach dem Beitritt von Rumänien und Bulgarien nicht in der Lage, weitere Länder aufzunehmen. Die EU drohe sich finanziell und politisch zu überheben. Vor allem aber fordern die Kritiker die Rückbesinnung auf die europäische Idee der politischen Integration: Eine grenzenlose, zu schnelle und blinde Erweiterung der EU werde den Einigungsgedanken und die erwachende europäische Identität zerstören. Diese Politik gehe unweigerlich zu Lasten der Vertiefung der Integration. Letztlich drohe dann das Scheiten der politischen Union Europas.
Allerdings müssen auch die Erweiterungsgegner einräumen, dass jedes europäische Land das im EU-Vertrag verankerte Recht hat, sich um die Mitgliedschaft in der Union zu bewerben. Doch was ist ein "europäisches Land"? Handelt es sich dabei lediglich um eine geografische Zugehörigkeit? Wäre dann die Türkei, die nur zu drei Prozent auf dem hiesigen Kontinent liegt, ein "europäischer Staat"? Oder stiften doch eher die gemeinsam erlittene Geschichte, die gemeinsame Kultur, die gemeinsamen geistigen Wurzeln oder die gemeinsamen Werte eine europäische Identität? Wie muss die politische, kulturelle, soziale Schnittmenge der Nationen beschaffen sein, die "Europa" konstituiert? Da jede Erweiterung die EU verändert, müssen sich die Europäer auch fragen, welches Ziel sie anstreben, welche Gestalt die Union am Ende haben soll und ob die Aufnahme des jeweiligen Beitrittskandidaten nicht von diesem Ziel wegführt.
Die Frage nach den Grenzen der EU ist somit immer auch die Frage nach Ziel und künftiger Gestalt der Union. Wie weit soll der Verzicht auf nationale Souveränität gehen? Sollen wir uns mit einem Europa der Wirtschaft, einer Zollunion, einem freien Binnenmarkt, der wirtschaftspolitischen Kooperation und einem abgestimmten Außenhandel zufrieden geben? Oder haben wir eine politische Union im Auge, die auf immer mehr Feldern immer enger zusammenwächst - von der Umweltpolitik über innenpolitische Themen bis zur Außen- und Sicherheitspolitik? Eine Gemeinschaft der Völker, die eine gemeinsame europäische Identität und gegenseitige Solidarität entwickelt?
Wer wie Großbritannien den Verzicht auf nationale Souveränität in vielen Fällen ablehnt, einer weiteren Integration skeptisch gegenübersteht und stattdessen eine pragmatische Zusammenarbeit befürwortet, der wird gegen eine großzügige Erweiterung wenig einzuwenden haben - selbst wenn diese die politische Union erschwert. Wer dagegen der Idee der europäischen Gründerväter anhängt und eine immer engere politische Integration anvisiert, der wird an die Beitrittskandidaten strengere Maßstäbe anlegen. Dann geht es nicht nur um wirtschaftliche oder politisch-strategische Vorteile, sondern auch um Kultur, Identität und Solidarität.
Obgleich man davon ausgehen kann, dass nach der Aufnahme Rumäniens und Bulgariens auf absehbare Zeit kein weiteres Land EU-Mitglied werden kann, klopft dennoch eine ganze Reihe von Staaten ungeduldig an die Brüsseler Tür. Das sind vor allem die Türkei und Kroatien, wobei der Ausgang der Verhandlungen offen ist. In der zweiten Warteschlange stehen die Staaten des westlichen Balkans. Auch die Ukraine und Moldawien wollen zur EU stoßen, werden aber bisher von Brüssel auf Distanz gehalten. Doch während eine Aufnahme Weißrusslands und Russlands ausgeschlossen ist, muss sich Brüssel dem Drängen der Ukraine und Moldawiens stellen.
Hinsichtlich dieser verschiedenen Beitrittserwartungen schlägt das Europaparlament eine Art "Dritten Weg" vor: eine Einbindung in die EU, die mehr ist als nur Nachbarschaftspolitik oder als eine rein ökonomische Zusammenarbeit wie im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). In seinem Bericht zur Erweiterungsstrategie der EU-Kommission fordert der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Europäischen Parlaments, der CDU-Abgeordnete Elmar Brok, die Schaffung eines "EWR plus". Da sowohl die Balkan-staaten als auch die Ukraine vermutlich noch sehr lange Zeit auf den EU-Beitritt warten müssen, sollen sie, so der Ausschuss, schon im "Wartezimmer" von der Annäherung an Brüssel profitieren. So könnten diese Nationen wirtschaftlich unterstützt, politisch stabilisiert und weitgehend an die EU angebunden werden - und man könnte bei den Bürgern dieser Länder das Aufstauen von Frustration verhindern. Es entstünde dann auch keine Grenze im herkömmlichen Sinne, die "drinnen" und "draußen" definiert. Vielmehr gäbe es Zonen unterschiedlicher Dichte bei der europäischen Integration: ein Europa der konzentrischen Kreise.
Thomas Gack ist Korrespondent der "Stuttgarter Zeitung" in Brüssel