Wenn türkische EU-Gegner ihren Landsleuten so richtig Angst machen wollen, dann tischen sie die Geschichte vom Kokorec und dem drohenden Verbot dieser Nationalspeise durch Brüssel auf. Kokorec ist ein Gericht aus gegrillten Schafsdärmen, das von kleinen Lokalen und Straßenverkäufern angeboten und zu jeder Tages- und Nachtzeit gegessen wird. Wenn die Türkei eines Tages Mitglied der EU sei, dann werde es kein Kokorec mehr geben, weil der Schafsdarm gegen die Hygienevorschriften der Europäer verstoße, lautet das Argument der Europa-Skeptiker. Ebenso regelmäßig, wie die Berichte über ein Kokorec-Verbot auftauchen, werden diese dementiert - doch die Angst um den Traditions-Imbiss kocht immer wieder hoch.
In der Furcht vor der europäischen Regelungswut in türkischen Schnellrestaurants spiegelt sich die Angst vor Veränderungen, die der Türkei auf dem Weg nach Europa bevorstehen. Die meisten Türken hegen trotzdem keinen Zweifel daran, dass ihr Land nach Europa gehört. Zwar sind die Zustimmungsraten zur türkischen EU-Mitgliedschaft in den vergangenen Jahren in dem Maße gesunken, wie die Anforderungen der Europäer konkreter wurden. Dennoch hält sich eine stabile Mehrheit von mehr als 60 Prozent der Wahlbevölkerung, die den Beitritt befürwortet. Dieser Grundkonsens wird durch andere Umfragen bestätigt. Bei demoskopischen Erhebungen liegt die Regierungspartei AKP von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, die seit ihrem Wahlsieg im November 2002 alles auf die EU-Karte gesetzt hat, in sämtlichen Befragungen mit weitem Abstand vorn. Zweitstärkte Kraft ist die ebenfalls grundsätzlich proeuropäische Linkspartei CHP. Die größte antieuropäische Kraft in der Türkei, die rechtsnationalistische MHP, könnte derzeit nicht einmal fest mit einem Wiedereinzug ins Parlament rechnen. Das bedeutet: Die Türken betrachten Europa zwar mit weniger Begeisterung als noch vor einigen Jahren, aber eine Alternative zum proeuropäischen Kurs der derzeitigen Regierung kommt für sie nicht in Frage. Dieser Kurs war im vergangenen Jahr mit der Entscheidung der EU zur Aufnahme der Beitrittsgespräche belohnt worden.
Seit dem hart umkämpften Gipfelbeschluss vom 3. Oktober 2005 bereiten sich Türken und Europäer auf die Beitrittsgespräche vor. Die erste Stufe der Verhandlungen bildete das so genannte Screening, ein Abgleich zwischen dem Stand der EU-Vorschriften und dem Ist-Zustand der türkischen Gesetze. Noch in diesem Frühjahr sollen in den ersten der insgesamt 34 Verhandlungskapitel die inhaltlichen Gespräche beginnen, bei denen es um die Übernahme der EU-Regelungen in den türkischen Alltag geht. Längst nicht alle EU-Staaten sind überzeugt davon, dass diese Angleichung gelingen wird. Seit die Türkei mit ihrem Europa-Streben ernst macht, wächst in der EU das Unbehagen über den schwierigen Partner am Bosporus. Noch vor zehn Jahren musste sich niemand in Europa allzu viele Gedanken über eine Antwort auf das türkische EU-Streben machen, weil Ankara ohnehin Lichtjahre von der Erfüllung rechtsstaatlicher und wirtschaftlicher Mindeststandards entfernt war. Doch diese Zeiten sind vorbei. Nach dem Reformsprint der vergangenen Jahre bescheinigte die EU-Kommission der Türkei, sie erfülle "hinreichend" die Kopenhagener Beitrittskriterien. Zudem verlieh Brüssel der Türkei den Titel einer "funktionierenden Marktwirtschaft". Ankara muss also als Beitrittskandidat ernst genommen werden. Für die Türken selbst stand das ohnehin nie in Frage.
Wie kaum ein anderes Land ist die Türkei seit ihrer Gründung 1923 auf das Ziel Europa fixiert. Als der Armee-General Mustafa Kemal, der später den Beinamen Atatürk erhielt, nach dem Ersten Weltkrieg die Republik schuf, gab er dem neuen Staat die Richtung vor. Der Orient und der Osten waren für Atatürk gleichbedeutend mit mittelalterlicher Rückständigkeit. Europa und der Westen dagegen standen für das Moderne. Die Türkei wurde bereits 1952 - drei Jahre früher als Deutschland - Nato-Mitglied. Auch die drei Staatsstreiche der türkischen Militärs von 1960, 1971 und 1980 und der immer wieder aufflammende Kurdenkonflikt änderten nichts am grundsätzlichen Ziel, eines Tages zu Europa gehören zu wollen. Trotz eines seit 1963 bestehenden Assoziierungsabkommens wurde der erste türkische Antrag auf Aufnahme in die Europäische Gemeinschaft (EG) 1989 jedoch abgelehnt. Auch der Luxemburger EU-Gipfel vom Dezember 1997 lehnte es ab, die Türkei in den Kreis der Beitrittskandidaten aufzunehmen. Dies gelang erst zwei Jahre später, beim Gipfel von Helsinki im Dezember 1999. Die Türkei blieb allerdings jahrelang der einzige Bewerberstaat, mit dem die EU keine Beitrittsverhandlungen führte.
Atatürks historischer Auftrag, das Land nach Europa zu bringen, zwingt selbst konservative Kräfte in Armee, Justiz oder Verwaltung auf EU-Kurs, die dem Modernisierungs- und Demokratisierungsprojekt aus eigenem Antrieb nicht sehr begeistert gegenüber stehen. Niemand, der als Soldat oder Beamter der türkischen Republik dient, kann es sich leisten, offen gegen das Europa-Projekt des Staates zu Felde zu ziehen. Deshalb findet der Widerstand nationalistisch gesonnener Generäle, Richter und Beamter im Verborgenen statt - verbrämt mit dem Hinweis, dass die Europäer bestimmte Forderungen nur deshalb an die Türkei richten würden, um das Land zu schwächen. Außerhalb des Staatsapparates kommt zu der von Atatürk geerbten ideologischen Ausrichtung der Türkei noch eine zweite Motivationsquelle hinzu, die das Europa-Streben des Staates antreibt. Umfragen zufolge glaubt mehr als jeder zweite Türke, dass sich die Rolle der EU positiv auf verschiedenste Bereiche des öffentlichen Lebens auswirkt - in den EU-Mitgliedsstaaten denken die meisten Menschen dagegen, dass die EU lediglich in Einzelbereichen Veränderungen bewirkt. In diesen Zahlen spiegelt sich die Ansicht vieler Türken, dass die EU die Behörden und die Politiker in Ankara zu Veränderungen zwingt, die unerreichbar wären, wenn die Türkei auf sich selbst gestellt bliebe. Viele Türken sind der festen Ansicht, dass das in den vergangenen Jahren freier gewordene gesellschaftliche Klima im Innern vor allem auf den Druck aus Brüssel zurückzuführen ist. Deshalb haben sich auch die Repräsentanten der christlichen Kirchen in der Türkei trotz aller Schwierigkeiten, die sie mit dem türkischen Staat haben, für den Beginn der Beitrittsverhandlungen ausgesprochen. Die Reformen haben aus ihrer Sicht zwar längst nicht alle Hoffnungen erfüllt. Aber ohne den EU-Prozess wäre selbst das bisher Erreichte wohl nicht zustande gekommen. Bei Kirchenvertretern, Bürgerrechtlern und sogar bei Geschäftsleuten in der Türkei kann man einen Satz immer wieder hören: "Alleine schaffen wir es nicht." Hinter dieser Überzeugung steckt die Sorge, obrigkeitsstaatliche Traditionen der orientalischen Vergangenheit könnten sich am Ende als stärker erweisen als der moderne Rechtsstaat, wenn die EU nicht ein Auge auf die Türkei hält. Diese proeuropäischen Grundströmungen dürften die Türkei auf absehbare Zeit auf EU-Kurs halten. Einfach werden die Beitrittsgespräche trotzdem nicht werden. Je weiter die Türkei auf Europa zusteuert, desto mehr muss sie sich Auflagen aus Brüssel unterwerfen. Als Land, das die eigene Souveränität vor rund 80 Jahren blutig erkämpfen musste und das seitdem "die Nation" als höchstes Gut betrachtet, ist die Türkei nicht gut vorbereitet auf die Abgabe von Souveränitätsrechten. "Die Souveränität gehört ohne Abstriche und ohne Vorbehalte der Nation", lautet ein Wahlspruch Atatürks, der an der Stirnwand des Parlamentes in Ankara prangt. Doch nun wird die Türkei ihre Souveränität mit der EU teilen und damit Ausländern ein Mitspracherecht einräumen müssen.
Nicht nur die Vaterlandsliebe der Türken könnte die EU-Ambitionen ihres Landes bremsen, auch Ankaras außenpolitische Visionen könnten sich als Hemmnis erweisen. In den vergangenen Jahren hat in der Türkei eine Denkschule an Einfluss gewonnen, deren Anhänger als "Neo-Osmanen" bezeichnet werden: Sie sprechen der Türkei als Nachfolgerin des Osmanischen Reichs großen Einfluss vom Balkan bis zum Nahen Osten zu. Demnach ist die Türkei kein "Brückenland" zwischen Ost und West, sondern eine eigenständige Regionalmacht. Die Folge ist, dass die Türkei trotz ihrer Nato-Mitgliedschaft und ihrer EU-Kandidatur hin und wieder ganz andere außenpolitische Akzente setzt als der Westen. Das zeigte sich etwa nach dem Wahlsieg der radikalislamischen Palästinenserorganisation Hamas im Januar. Während die westlichen Staaten Kontakte mit der Hamas ablehnen, empfing die türkische Regierung eine Delegation der Palästinensergruppe in Ankara. Eines zeichnet sich jedenfalls jetzt schon ab: Die Bemühungen um eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU würden nach einem Beitritt der Türkei auf keinen Fall einfacher werden.
Susanne Güsten arbeitet in Istanbul als Korrespondentin für mehrere Zeitungen.