Der Balkan war schon vor hundert Jahren ein Expansionsfeld der Habsburger-Monarchie. 1908 wurden Bosnien und Herzegowina von Kaiser Franz Joseph annektiert. Das Ergebnis war der Erste Weltkrieg - ein Auslöser dafür war das Attentat auf Erzherzog-Thronfolger Franz Ferdinand von Österreich am 28. Juni 1914 in Sarajewo. Ein Krieg ist heute nicht zu befürchten und es hat eher wirtschaftliche als historisch-nostalgische Gründe, dass Wien die enge Anbindung der Balkanstaaten an die EU zu einem der Schwerpunkte der österreichischen Ratspräsidentschaft erklärt hat. Kroatien und Mazedonien haben bereits Kandidatenstatus.
Mit Zusagen an andere Länder ist allerdings vorerst nicht zu rechnen, denn Staaten wie Frankreich, die Bundesrepublik oder Holland stehen auf der Bremse. Für Norbert Lammert, der jüngst zu politischen Gesprächen in Wien war, herrscht zwar zwischen Deutschland und Österreich weitgehende Übereinstimmung bei EU-Themen. Die Ausdehnung der Union nach Südosten hat für den Bundestagspräsidenten indes keine Priorität. Die Aufnahme Bulgariens und Rumäniens steht bevor, Kroatien hat die Eintrittskarte in der Tasche. Lammert glaubt nicht, dass es nach der Mitgliedschaft dieser drei Staaten "in baldiger Zukunft" zu neuen Erweiterungsschritten kommen wird. Schließlich existiert ein Beschluss des EU-Parlaments, wonach eine noch größere Union ohne institutionelle Reform nicht mehr handlungsfähig sei: Erst das Inkrafttreten der auf Eis liegenden Verfassung werde dies ändern.
Kroatien, dessen ökonomische Beitrittsreife kaum in Frage zu stellen ist, hat durch die Auslieferung von General Ante Gotovina an das UN-Kriegsverbrechertribunal den letzten großen Stolperstein für Aufnahmeverhandlungen beseitigt und dürfte sich vermutlich 2009 zur EU gesellen können. Mazedonien besitzt einen Kandidatenstatus, wobei sich Brüssel jedoch auf feste Termine für die weiteren Schritte nicht festlegen will. Die anderen Länder der Region müssen sich vorerst mit Zoll- und Assoziationsabkommen begnügen.
Zwar gilt die Zusage des Gipfels von Thessaloniki im Jahr 2003, wonach der Balkan zur Union gehört - doch hat man dabei lange Fristen im Blick. EU-Kommissar Günter Verheugen spricht von 20 Jahren. Aber allein die Beitrittsperspektive, so hofft man in Brüssel, werde Anreiz genug sein, um Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Wirtschaft zum Blühen zu bringen.
Für europäische Unternehmen ist der Balkan attraktiv. Schließlich hat Südosteuropa mit einer Wachstumsrate von 23 Prozent zwischen 2002 und 2005 eine größere ökonomische Dynamik als die EU. Für die Investoren macht es sich bezahlt, dass die EU seit 1999 Finanzhilfen von über 25 Milliarden Euro in diese Region gepumpt hat. So sind denn die Hindernisse für die EU-Erweiterung kaum wirtschaftlicher Natur, kompliziert wird es politisch. Besonders schwierig ist die Situation in Serbien-Montenegro mit der Krisenprovinz Kosovo. Am 5. April verhandelt Brüssel erneut mit Belgrad über einen Stabilisierungs- und Assoziationsvertrag. Dieses Datum gilt als inoffizielles Ultimatum für die Auslieferung von General Ratko Mladic an Den Haag, dem die Hauptverantwortung für das Massaker von Srebrenica angelastet wird. Obwohl Serbien-Montenegro wirtschaftlich weiter zurück liegt als Kroatien, ist die EU, so Franz-Lothar Altmann, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde, sehr daran interessiert, Serbien-Montenegro und besonders Serbien "in die europäische Struktur einzubetten". Altmann: "Man will schließlich nicht dieses schwarze Loch, diesen Unsicherheitsfaktor inmitten der erweiterten Union haben". Nur mit der Beitrittsperspektive könne die EU Reformen und die Zusammenarbeit mit Den Haag anmahnen. Der Osteuropaexperte rechnet mit Aufnahmeverhandlungen in etwa zehn Jahren. Doch auch die bisherige Annäherung an Brüssel hat für Serbien-Montenegro schon Früchte getragen - seit dem Sturz Slobodan Milosevics sind rund zwei Milliarden Euro EU-Hilfsgelder geflossen. Bald dürfte entschieden sein, ob Serbien und Montenegro getrennte Wege gehen und ob Brüssel deshalb mit zwei Staaten verhandeln müssen wird: Am 21. Mai stimmen die Montenegriner über die Unabhängigkeit ihres Lands ab. Ein Ja steht noch nicht endgültig fest. De facto hat man jedoch längst eigene Wege eingeschlagen: Die Wirtschaft ist nach Westen orientiert und als Währung zirkuliert nicht der Denar, sondern der Euro. Anders ist die Lage im Kosovo. Die serbische Provinz mit mehrheitlich albanischer Bevölkerung steht seit 1999 unter internationaler Verwaltung. Die Kosovaren fordern die Eigenstaatlichkeit, doch Belgrad gibt seinen Anspruch auf diese Region bislang nicht auf. Der Ausgang der Gespräche über die Zukunft des Kosovo wird auch die weitere Annäherung der EU an Serbien und Albanien beeinflussen. Mit Albanien hat Brüssel bereits ein Stabilisierungs- und Assoziationsabkommen unterzeichnet - ein erster Schritt auf dem langen Weg zu EU-Mitgliedschaft. Auf dem Balkan steht Brüssel vor einem komplizierten Verhandlungsmarathon. Wie immer das Resultat auch sein wird: Ein Weltkrieg wird im einstigen Pulverfass nicht mehr ausbrechen - dafür sorgt die EU.
Ralf Leonhard ist Korrespondent der "Tageszeitung" (taz) in Wien.