Der Pfarrer in dem Dorf unweit der Kreisstadt Minsk Mazowiecki ist mal wieder bei seinem Lieblingsthema: der Europäischen Union. Das sei Materialismus, die Gier nach Geld, die Auflösung der Familie, die immer stärker um sich greifende Gottlosigkeit. Mit scharfen Worten geißelt der Priester, dass in der Präambel des Entwurfes für eine Europäische Verfassung die Anrufung Gottes fehlt. Minsk Mazowiecki gehört zur "Ostwand" Polens, der bäuerlich geprägten Region entlang der Ostgrenze des Landes. Von hier bis nach Weißrussland sind es nur 80 Kilometer. Es ist eine der ärmsten Gegenden in der erweiterten EU.
Ganz anders ist die Stimmung in der 450 Kilometer südwestlich gelegenen Kreisstadt Prudnik, die zur deutschen Zeit Neustadt/Oberschlesien hieß. Tagtäglich bekommen die Einwohner des Städtchens vor Augen geführt, was es bedeutet, Mitglied der Europäischen Union zu sein. Die EU hat sich nämlich an der Finanzierung der Ortsumgehung beteiligt, große Tafeln weisen auf diese Subvention aus Brüssel hin. Bislang führte der Fernverkehr von Zentralpolen sowie dem oberschlesischen Industriegebiet zum nur wenige Kilometer entfernten Grenzübergang nach Tschechien mitten durch das Städtchen, vorbei an mehreren Schulen. Deshalb weiß die Regionalpresse auch wenig Schlechtes über die Mitgliedschaft in der EU zu berichten. "Dazu gab es überhaupt keine Alternative", heißt es in der Nowa Trybuna Opolska (Neue Oppelner Tribüne). Allerdings dürfe man auch nicht die Augen davor verschließen, dass die wirtschaftlichen Folgen keineswegs für alle nur positiv seien. Zwar würden viele Betriebe von der starken Nachfrage besonders aus Deutschland profitieren, andere aber müssten sich nun der Konkurrenz aus dem Westen erwehren. Der Kommentator zieht Zwischenbilanz: Eine Mehrheit der Einwohner der Region sei mit den Folgen des EU-Beitritts überaus zufrieden, doch eine beträchtliche Gruppe sehe sich in ihrer Skepsis, gar Gegnerschaft bestätigt.
Die EU-Befürworter hoffen, dass der Modernisierungsschub, der das Land in den letzten anderthalb Jahrzehnten bereits kräftig umgestaltet hat, weiter anhält. Zu ihnen gehört die große Mehrheit der Stadtbevölkerung, der Gebildeten und der jungen Generation. In der Tat unterscheiden sich die größten polnischen Städte heute kaum noch von westeuropäischen Metropolen, auch hat sich das Kulturleben längst internationalisiert: Fernseh-, Verlags- und Kulturprogramme weisen dieselben Namen auf, die auch bei den Nachbarn im Westen gefragt sind. Die Jugendlichen liegen voll auf Westkurs, sie tragen dieselbe Mode, hören überwiegend dieselbe Musik, sehen dieselben Filme wie ihre Altersgenossen in den Nachbarländern. Allerdings beklagt man in Polen, dass es sich um eine "kulturelle Einbahnstraße" handelt: In den anderen EU-Staaten kennt man weder polnische Popgruppen, selbst wenn diese auch englische Titel im Programm haben, noch den jungen polnischen Film.
Dafür sind die jungen Leute selbst zum "Exportgut" geworden, wie die liberale Polityka es nennt: Zehntausende von Hochschulabsolventen sind zur Arbeitssuche in die anderen EU-Staaten gegangen, nicht um sich als Putzfrau oder Erntehelfer zu verdingen, sondern um in internationalen Firmen und Institutionen zu arbeiten. Durchweg sprechen sie mehr Fremdsprachen als ihre Altersgenossen in Deutschland oder Frankreich. Englisch ist selbstverständlich, überdies wird in keinem anderen Land so viel Deutsch gelernt wie in Polen. Vor allem sind die jungen Polen überaus leistungsbereit, sie sind durchweg zäher und meist auch flexibler als ihre Pendants in Westeuropa - auch weil sie wissen, dass sie seit Generationen die ersten sind, denen sich die Chance eröffnet, über ihr Leben völlig frei zu bestimmen. Sie sind also eine ernsthafte Konkurrenz für Bewerber aus den Alt-EU-Staaten um Führungspositionen geworden.
Die überwältigende Mehrheit der jungen Polen bejaht entschieden die heftig diskutierte Frage: "Kann Polen in der EU seine nationalen Traditionen wahren?" Man verweist auf Irland, wie Polen ein katholisches Land. Irland sei keineswegs seit seinem EU-Beitritt, wie von manchen vorausgesagt, von einer Welle der Pornographie und Prostitution überrollt worden, vielmehr habe die Kirche in der dortigen Gesellschaft ihre Stellung durchaus behaupten können.
Doch das irische Beispiel lassen die polnischen EU-Skeptiker nicht gelten. Irland sei eine Insel, Polen aber habe sich gegenüber Nachbarn zu behaupten, die es dominieren wollten. Gemeint sind damit vor allem die Deutschen. Das Verhältnis zu den nächsten Nachbarn im Westen ist also für einen Großteil der polnischen Gesellschaft auch Maßstab für ihr Bild von der EU, für ihre Hoffnungen, aber auch für Befürchtungen. Zu den Argumenten der EU-Gegner gehören somit historisch begründete starke Vorbehalte gegenüber den Deutschen. Ihr Sprachrohr ist der nationalkatholische Sender Radio Maryja.
Es ist also kein Zufall, dass im Doppelwahlkampf des vergangenen Herbstes, als sowohl ein neues Parlament als auch ein neuer Präsident bestimmt werden mussten, Angriffe auf Brüssel und Berlin Hand in Hand gingen. Die Wahlen bestätigten noch einmal, dass die polnische Gesellschaft auch geografisch zweigeteilt ist: Im Osten und Süden hatten die EU-Skeptiker und Gegner deutlich die Nase vorn, auch im Kreis Minsk Mazowiecki. Im Norden und Westen siegten dagegen proeuropäische Kandidaten und Parteien mit großem Vorsprung, auch im Kreis Prudnik. So war es schon beim EU-Referendum 2004 gewesen: In den ehemals deutschen Gebieten lag die Zustimmung mehr als zehn Prozent über dem Landesdurchschnitt, an der "Ostwand" dagegen rund zehn Prozent darunter. In Prudnik wehte damals die blaue Europafahne mit dem Sternenkreis, in Minsk Mazowiecki aber sah nur eine Minderheit Grund zu feiern.
Während die EU-Anhänger beim EU-Referendum trotz der Zurückhaltung an der "Ostwand" landesweit deutlich siegten, erwiesen sich bei den Wahlen im Herbst 2005 überraschend im Landesschnitt die für Europa offenen Regionen im Westen und Norden schwächer als der Osten und Südosten mit seiner überwiegend konservativen, sogar nationalistisch eingestellten Bevölkerung. Eine Rolle spielte dabei auch die von Nationalisten geschürte Angst vor den Nachteilen für Polen nach dem EU-Beitritt, vor allem vor dem Verlust von Arbeitsplätzen. Dabei fand die große Umstrukturierung der Wirtschaft schon in den neunziger Jahren statt. Heute liegt die Erwerbslosenquote bei fast 20 Prozent - trotz der Milliardeninvestitionen durch internationale Firmen, die durchweg begehrte Arbeitgeber sind. Namen und Logos dieser Unternehmen haben durchaus auch psychologische Bedeutung: Sie symbolisieren, dass Polen zum Westen gehört, sie signalisieren also für einen Teil der Gesellschaft die Erfüllung eines alten Traums. Im nationalkonservativen Regierungslager wächst ebenfalls die Einsicht, dass Polen aus der EU-Mitgliedschaft vor allem Nutzen ziehen wird. So sind die EU-Milliarden längst in den Haushaltsentwürfen der kommenden Jahre eingeplant. Doch steht zu erwarten, dass die nun tonangebende politische Elite eine Sonderrolle Polens in der EU spielen möchte, auch weil man überzeugt ist, wegen des Schicksals des im Zweiten Weltkrieg vom Westen verratenen Landes einen moralischen Anspruch darauf zu haben - ein Argument, das in Brüssel immer wieder für Befremden sorgt.
Indes steht zu erwarten, dass die heftigen Emotionen, in Polen von Debatten über den Zweiten Weltkrieg und die Vertreibung der Deutschen als dessen Folge ausgelöst, bald an Brisanz verlieren werden. Denn es dürfte sich auch an der Weichsel die Erkenntnis durchsetzen, dass aus Projekten wie dem Berliner Zentrum zur Dokumentation von Vertreibungen keine politische Bedrohung erwachsen kann.
Doch zunächst möchte die im Herbst 2005 gewählte Regierung ganz offensichtlich an den Patriotismus der dreißiger Jahre anknüpfen. Dabei werden in geradezu provozierender Weise Akzente gegenüber dem "alten Europa" gesetzt: etwa, wenn Politiker der Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit" sich für die Todesstrafe aussprechen oder Demonstrationszüge Homosexueller verbieten.
Jüngsten Umfragen zufolge aber möchte die Mehrheit der Bevölkerung diesen "Marsch in die Vergangenheit" keineswegs mittragen. Die meisten Polen reagieren nämlich traditionell allergisch auf Versuche der ideologischen Steuerung. Die Nationalkatholiken in der Regierung im Bunde mit Radio Maryja und einem Großteil des Klerus werden also kaum verhindern, dass sich die Gesellschaft immer mehr an das moderne "alte Europa" annähert. Denn ein Jahr nach dem Tod von Papst Johannes Paul II. zeichnet sich in Deutschlands östlichem Nachbarland ab, dass der Einfluss der Kirche in der Gesellschaft unaufhaltsam schwinden wird. Bischöfe tragen Konflikte über deren Kurs offen in den Medien aus - was unerhört für Polen ist -, während die Zahl der Gottesdienstbesucher spürbar sinkt. Auch dies sei ein Aspekt der "Europäisierung", stellte die katholische Wochenzeitung "Tygodnik Powszechny" bedauernd fest. Unerschütterlich scheint die Position der Kirche nur an der "Ostwand" zu sein, worauf der Pfarrer von Minsk Mazowiecki nicht ohne Stolz verweist. Doch mit seinen Warnungen vor der Europäischen Union dürfte der Gottesmann in Zukunft auf immer weniger Gehör stoßen: Die Landbevölkerung beginnt nämlich, die EU-Subventionen sehr zu schätzen.
Thomas Urban ist Korrespondent der "Süddeutschen Zeitung" in Warschau.