Die Ukraine will in die EU, darf aber nicht. In Russland würde Brüssel gerne durch eine engere Anbindung des Landes an die Union die demokratische und wirtschaftliche Enwicklung befördern - doch Präsident Wladimir Putin zeigt der Gemeinschaft zusehends die kalte Schulter. Und nicht nur das: Moskau macht zunehmend deutlich, wer im Einzugsbereich der Geimeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) das Sagen hat und versucht, Brüssels Einfluss in diesen Ländern zurückzudrängen. Nicht erst seit dem Streit um die Gaslieferungen zu Beginn dieses Jahres wurde dies deutlich. Auch der Streit um die Orangene Revolution offenbart die schwierige Lage.
"Pora!" - zu deutsch: es wird Zeit -, lautete das Motto der ukrainischen Opposition im Revolutionsmonat November 2004. Über der Zeltstadt in Kiew wehte damals eine blaue Europa-Flagge. Der Sternenkranz bildete das O im Wort Pora. Im Herbst 2004 waren 13 Jahre vergangen, seit sich die Ukraine aus dem sowjetischen Staatenverbund gelöst hatte. 13 Jahre, die das Land damit zugebracht hatte, seine Position zwischen Ost und West, zwischen Russland und der EU fast im monatlichen Turnus neu zu bestimmen. Schaukelpolitik nannte man das. Der Amtsantritt Viktor Juschtschenkos beendete diese Übung: Dem Machtwechsel in Kiew folgte ein klares Bekenntnis zur europäischen Integration und damit einer Hinwendung zum Westen.
Nahezu zeitgleich geriet das Verhältnis zwischen Russland und Brüssel in eine Phase der Stagnation. Die Zusammenarbeit im Rahmen des Partnerschafts- und Kooperationsabkommens war schon zuvor mühsam gewesen, kam aber wegen des Streits über den politischen Umsturz in Kiew vollends aus dem Tritt. Seither sieht sich Brüssel mit einer vertrackten Situation konfrontiert: Die EU hat mit der Ukraine einen unwillkommenen Beitrittskandidaten mehr, wohingegen eine Integration Russlands in die europäischen Strukturen auf unbestimmte Zeit vertagt ist. Die Führung unter Präsident Wladimir Putin zeigt Brüssel zusehends die kalte Schulter. Im Einzugsbereich der GUS setzt sich Moskau mehr und mehr als Konkurrent der EU in Szene, um deren Einfluss zurückzudrängen.
Die Ukraine dagegen hat es eilig, der EU beizutreten. Vom Ziel einer Vollmitgliedschaft lässt sich die Staatsspitze unter Juschtschenko nicht mehr abbringen. Der Präsident möchte auf der Grundlage eines Assoziationsvertrags Verhandlungen über eine Aufnahme seines Landes in die EU beginnen. Und das schon 2007. Brüssel indes will nach der ukrainischen Parlamentswahl vom Sonntag zwar über einen Assoziierungsvertrag reden, nicht aber über eine EU-Mitgliedschaft Kiews. Der Vize-Vorsitzende der EU-Kommission, Günter Verheugen, spricht Klartext: "In 20 Jahren werden alle europäischen Länder Mitglied der EU sein - mit Ausnahme der Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die heute noch nicht in der EU sind." Mit anderen Worten: Die Ukraine bleibt draußen.
Brüssel hat Kiew derzeit kaum mehr zu bieten als eine "privilegierte Partnerschaft". Diskutiert wird über Erleichterungen im Reiseverkehr, über einen vereinfachten Zugang Kiews zu Geldern der Europäischen Investitionsbank sowie über die Schaffung einer Freihandelszone und eines hochrangigen Forums für den Energiedialog. Vor allem Letzteres liegt auch im Interesse der Europäer, wie kürzlich der Gasstreit zwischen der Ukraine und Russland verdeutlichte. Bis zum Auslaufen des derzeitigen Kooperationsabkommens in zwei Jahren soll über eine Aufwertung der Beziehungen zwischen der EU und Kiew entschieden werden. Aus dem jetzigen Vertrag könnte ein Assoziierungsabkommen werden. Ob die Ukraine eine solche Übereinkunft allerdings ohne die Option auf eine Vollmitgliedschaft akzeptieren würde, gilt vielfach als fraglich. Alle Verhandlungen über eine Intensivierung der Beziehungen wurden erst einmal auf die Zeit nach dem Urnengang vom 26. März verschoben. Denn offen ist, welchen Einfluss dieses Votum der Wähler auf die außenpolitische Ausrichtung Kiews haben wird. Unklar ist nämlich, ob die Ukraine die Forderung nach einer raschen Integration in die Europäische Staatengemeinschaft nach dieser Wahl aufrechterhalten wird.
Die im Dezember beschlossene Reform der Verfassung, die das Parlament zu Lasten des Präsidenten stärkt, hat die Voraussetzung für das Entstehen eines demokratischen Parteiensystems geschaffen. Diese von der Europäischen Union begrüßte Neuerung hat jedoch auch zur Folge, dass sich das innenpolitische Kräfteverhältnis erneut verschieben wird. Sollte bei der Wahl das Parteienbündnis des Juschtschenko-Rivalen Viktor Janukowitsch gestärkt werden, dürften beide Lager eine Regierungskoalition bilden.
In einem solchen Fall werden sich die europafreundlichen Sympathisanten des ukrainischen Präsidenten mit den ostwärts orientierten Anhängern seines Gegners auseinandersetzen und arrangieren müssen. Janukowitschs Partei verspricht ihren Wählern eine stärkere Anbindung an Russland. Dem beherzten Bekenntnis zur europäischen Integration in der Ukraine könnte also eine erneute Phase der Schaukelpolitik folgen.
Manchem Erweiterungs-Skeptiker in Brüssel wäre eine solche Entwicklung vielleicht ganz recht. Für die politische Führung in Moskau wäre ein Erfolg Janukowitschs mehr als nur eine Genugtuung. Mit dem ruhmlosen Abgang ihres Kandidaten nach der Revolution Ende 2004 hat sich Moskau im ohnehin spannungsreichen Verhältnis mit dem Nachbarland eine außenpolitische Niederlage eingehandelt, die Putins Mannschaft noch heute umtreibt - und davon bleibt Russlands Verhältnis zur EU nicht unberührt.
Das Nachwirken des Streits um die ukrainische Revolution belastet die Beziehungen zwischen Brüssel und Russland. Bei einem Treffen in Moskau im Mai 2005 vereinbarten die EU und Russland die Schaffung von vier so genannten "Gemeinsamen Räumen": zur Wirtschaft, zur Freiheit, zur Sicherheit, Justiz und äußeren Sicherheit sowie zu Forschung, Bildung und Kultur. Die nach zähem Ringen erzielte Grundsatzerklärung sollte ursprünglich bereits im November 2004 in Den Haag unterzeichnet werden, was damals allerdings wegen des Streits um die Revolution in Kiew scheiterte. Russland unterstellte der EU, sie habe das Lager Juschtschenkos nicht nur unterstützt, sondern für ihre Ziele instrumentalisiert. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses der Duma, Konstantin Kossatschow, erklärte, Brüssel habe ein Interesse am Anheizen der Widersprüche zwischen Moskau und dem Westen in den postsowjetischen Staaten. Krisenhaft war das Verhältnis zwischen Russland und der EU indes bereits zuvor.
Die Grundsatzerklärung zur Schaffung "Gemeinsamer Räume" geht zurück auf ein Konzept Brüssels vom Juni 1999. Die EU stellte damals in einem Strategiepapier fest, dass die innenpolitische Entwicklung Russlands zu wünschen übrig lässt. Aus Sicht Brüssels sollte es in dem Riesenreich eine "stabile, offene und pluralistische Demokratie" und eine Justiz geben, die sich rechtsstaatlichen Grundsätzen verpflichtet fühlt. Auf dem Weg zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit wollte die EU Moskau Hilfestellung leisten, um das Land "in einen gemeinsamen europäischen Wirtschafts- und Sozialraum einzugliedern."
Unter dem russischen Präsidenten Putin hat die russische Politik mittlerweile jedoch einen Kurs in die andere Richtung eingeschlagen. Eine politische Lösung des Tschetschenien-Kriegs ist in weite Ferne gerückt. Putins "gelenkte Demokratie" mündete in spürbare Einschränkungen der Meinungs- und Medienfreiheit.
Gleichwohl beschäftigt sich der Ständige Partnerschaftsrat der EU und Russlands weiter mit der Schaffung "Gemeinsamer Räume". Moskau widersetzt sich allerdings der Ausdehnung dieser Politik auf jene europäischen Länder, die nicht Mitglied der Europäischen Union sind, aber zu den Nutznießern der Europäischen Nachbarschaftspolitik Brüssels gezählt werden. Neben der Ukraine sind dies Weißrussland, Moldawien und die Kaukasusstaaten Georgien, Aserbaidschan und Armenien. Russland stuft sich selbst als "Weltmacht" ein, will seine Rolle und Autorität in Europa gestärkt sehen und erklärt die GUS zu einer Tabuzone für die EU. Sonderbeziehungen einzelner GUS-Länder zu Brüssel lehnt Moskau ab.
Energiepolitisch ist die von Putin avisierte Autorität Russlands in Europa inzwischen Realität geworden. Der Gasstreit zwischen der Ukraine und Moskaus zu Beginn dieses Jahres hat dies offenbart. Den Revolutionären in Kiew wurde von der Führung in Moskau die Grenzen ihrer Unabhängigkeit aufgezeigt. Die Ukraine habe sich selbst in eine Sackgasse manövriert, verlautbart der für die GUS zuständige Duma-Ausschuss: Einen gemeinsamen Wirtschaftsraum mit Russland lehne Kiew ab, für eine Einbindung in die Europäischen Union fehle der Ukraine das Potenzial. Vielleicht sollte sich Brüssel vergegenwärtigen, dass aus dem widerwilligen Partner Russland mittlerweile auf der weltpolitischen Bühne ein Konkurrent geworden ist.
Katja Tichomirowa ist Korrespondentin der "Berliner Zeitung" in Moskau.