Aus der Ferne betracht", sagt der belgische Wirtschaftsprofessor André Sapir, "ist das europäische Sozialmodell klar erkennbar": Anders als in den USA oder in den asiatischen Ländern seien die meisten Europäer zuverlässig vor den wichtigsten sozialen Risiken geschützt. Bei näherem Hinsehen offenbarten sich jedoch große Unterschiede, weil die einzelnen Staaten auf recht unterschiedliche Weise ins ökonomische Räderwerk eingriffen. "Das Sozialprodukt jener Staaten, in denen die Sozialsysteme auf Dauer nicht mehr finanzierbar sind, macht zwei Drittel der euopäischen Wirtschaftsleistung aus", heißt es in einem Bericht, den Sapir für den Rat der EU-Wirtschafts- und Finanzminister im Herbst verfasst hat.
Unter Experten gibt es vergleichsweise wenig Streit über die Frage, welche Änderungen notwendig sind, um das europäische Sozialmodell nachhaltig zu sichern. Im Grundsatz hatten sich die Staats- und Regierungschefs im Jahre 2000 auf ihrem Gipfeltreffen in Lissabon auch auf eine Strategie verständigt, die den Reformstau abbauen soll. In der Praxis ließ sich diese "Lissabon-Strategie" jedoch nicht umsetzen - vor allem nicht in den Ländern, die beim Umbau ihres Sozialstaats am weitesten hinterherhinken. Bei der Ausformung der unterschiedlichen Sozialsysteme hat die Größe der jeweiligen Nationen eine wichtige Rolle gespielt. Es ist kein Zufall, dass in der alten EU mit ihren 15 Mitgliedern die Skandinavier die größten Erfolge beim Abbau der Arbeitslosigkeit erzielt haben.
Reformen werden in den großen EU-Staaten auch deshalb auf die lange Bank geschoben, weil viele der Länder lange Zeit nicht so stark von der Globalisierung betroffen waren. In der Vergangenheit konnte die Industrie dieser Länder den Bedarf des heimischen Markts vollständig decken und wurde durch Zölle vor Importen geschützt. Notfalls wurde die nationale Währung abgewertet, um Einfuhren zu verteuern und international die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern.
Machte die Konjunktur schlapp, legte die jeweilige Regierung ein kreditfinanziertes Konjunkturprogramm auf, um damit inländische Firmen besser auszulasten. Auf diese Weise wurden auch Spielräume für die Finanzierung der Sozialsysteme geschaffen - zu Lasten der Steuerbürger, die dies bezahlen mussten. Ein solches Instrumentarium steht kleinen Nationen seit jeher nur in begrenztem Umfang zur Verfügung. Während italienische und französische Unternehmen 75 Prozent ihrer Erzeugnisse auf dem heimischen Markt verkaufen und nur bei einem Viertel ihrer Produkte dem vollen Wettbewerb ausgesetzt sind, müssen die niederländischen oder österreichischen Betriebe mehr als die Hälfte ihrer Waren und Dienstleistungen jenseits der Grenzen loswerden, in Dänemark liegt diese Quote bei über 60 Prozent. Das ist nur zu schaffen, wenn man international wettbewerbsfähig ist.
In kleineren Staaten fördert diese Erfahrung auch bei Gewerkschaften die Einsicht in die Zwänge der Globalisierung. Gleichzeitig haben diese EU-Länder im Innern einen größeren sozialen Zusammenhalt, wie dies für kleine Gruppen typisch ist. Den Schweden in Göteborg verbindet historisch und kulturell mehr mit seinem Landsmann in Uppsala als den Norditaliener mit einem Sizilianer oder einen katholischen Bauern in Bayern mit einem protestantischen Arbeiter in Hamburg. Das erleichtert soziale Reformen in Schweden und erschwert solche Veränderungen in Italien oder Deutschland. In großen Nationen mündet jede Reform schnell in einen Verteilungskampf zwischen hochorganisierten Gruppen.
Gemeinsam ist allen EU-Staaten die Sozialversicherung, die für die Altersrenten sowie in den meisten Fällen auch für die Krankheitskosten und für den Einkommensausfall nach dem Verlust des Arbeitsplatzes aufkommt. In der Regel handelt es sich um Umlagesysteme, bei denen die aktuellen Ausgaben durch die laufenden Beiträge gedeckt werden. In manchen Ländern garantiert die Pflichtversicherung nur eine Minimalversorgung, die durch Zusatzleistungen entweder der Arbeitgeber oder der Versicherten aufgestockt wird. Zum europäischen Sozialmodell gehören auch Tarifverträge sowie Sozial- und Arbeitsmarktgesetze. Auch das in der Regel über Steuern finanzierte Bildungssystem ist hierbei ein wichtiger Faktor. Bei der Gewichtung dieser einzelnen Elemente unterscheiden sich das angelsächsische, das skandinavische und das kontinentale Modell des Sozialstaats. In Großbritannien und Irland hat die klassische Sozialversicherung eine eher geringe Bedeutung, weshalb beide Nationen mit niedrigen Sozialbeiträgen und Steuern auskommen. Die Briten geben mit 27,2 Prozent ihres Sozialprodukts etwas weniger für den sozialen Schutz als die alte EU im Schnitt mit 27,5 Prozent. Die Iren benötigen gar nur 14,6 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung - was aber auch damit erklärt werden kann, dass sie wesentlich jünger sind als die übrige Bevölkerung in Westeuropa. Beide Länder bieten einen nur geringen Kündigungsschutz und minimale Sozialleistungen. Der Staat hält sich mit Eingriffen ins ökonomische Geschehen weitgehend zurück. Die Steuersätze liegen bei maximal 35 Prozent. Die britische wie die irische Wirtschaft wachsen schnell und schaffen Arbeitsplätze, man verzeichnet Erwerbslosenquoten unter fünf Prozent.
Auf dem Kontinent hingegen sind die Sozialleistungen üppiger. Das führt zu höheren Versicherungsbeiträgen, die in der Bundesrepublik und in Frankreich rund 30 Prozent des Sozialprodukts ausmachen. Zudem fließt ein Teil des Steueraufkommens in die Finanzierung der Sozialversicherung. Der Staat greift stark in die Verkehrswirtschaft, ins Gesundheitswesen, in den Wohnungsmarkt, in kommunale Aufgaben und nicht zuletzt in den Arbeitsmarkt ein. Er selbst gründet Unternehmen, beteiligt sich an Firmen oder gewährt Subventionen. In der privaten Wirtschaft werden Kündigungen durch das Arbeitsrecht erschwert, und Betriebe können sich oft nur mühsam und unter hohen Kosten von ihren Beschäftigten trennen. Auf dem Kontinent liegen die Steuersätze rund zehn Prozent höher als bei den Angelsachsen, das Wachstum ist deutlich niedriger, die Zahl der Arbeitslosen doppelt so hoch.
Man kann das britisch-irische Modell als wirtschaftspolitisch liberal und sozialpolitisch minimalistisch bezeichnen. Das kontinentale System ist dagegen interventionistisch und garantiert hohe Sozialstandards. Der skandinavische Weg verläuft dazwischen: Eine liberale Wirtschaftspolitik wird kombiniert mit hohen Sozialleistungen. Die Nordeuropäer betreiben traditionell eine liberale Handelspolitik, ihre Märkte sind für ausländische Produkte offen. Die Wirtschaftskraft fließt trotzdem zu einem großen Teil in die soziale Sicherung (30 Prozent). Das skandinavische Modell ist teuer (die Steuersätze sind mit rund 50 Prozent höher als überall sonst in Europa), aber erfolgreich. Im Rahmen der alten EU liegen im Norden die Wachstumsraten an der Spitze. Die Erwerbslosenquote in Dänemark und Schweden (wie auch in Holland) pendelt um die fünf Prozent, nur in Finnland liegt sie bei rund acht Prozent.
Dänemark hat in den neunziger Jahren den Kündigungsschutz weitgehend beseitigt und gleichzeitig ein leistungsfähiges Fortbildungssystem für Arbeitnehmer aufgebaut. Erwerbslose werden großzügig vom Staat unterstützt, stehen aber unter erheblichem Druck, sich für neue Aufgaben zu qualifizieren. Beschäftigte können ohne große Formalitäten gekündigt werden, finden aber leicht einen neuen Job: Nirgendwo sonst in Europa ist die durchschnittliche Beschäftigungsdauer kürzer als in Dänemark mit unter acht Jahren. 30 Prozent der Arbeitnehmer wechseln jedes Jahr ihren Arbeitgeber.
Die Brüsseler Kommission empfiehlt das dänische Modell den anderen EU-Ländern zur Nachahmung, weil Flexibilität am Arbeitsmarkt einhergeht mit einem ausgeprägten sozialen Schutz. "Sichere Arbeitsplätze bekommen wir nicht, indem wir jeden einzelnen Arbeitsplatz schützen", sagt Sozialkommissar Vladimir Spidla: "Stattdessen müssen wir die Arbeitnehmer in die Lage versetzen, einen neuen Job zu finden". Auch dann, wenn sie älter geworden sind.
Als nachhaltig stuft André Sapir nur das skandinavische und angelsächsische System ein. Die angelsächsische Variante ist vor allem kostengünstig. Die skandinavische Alternative ist zwar teurer, verknüpft aber eine geringe Erwerbslosigkeit mit hohem Wachstum und ausgesprägten Sozialleistungen. Die Sozialsysteme in den großen kontinentalen Ländern scheinen dagegen auf Dauer nicht finanzierbar zu sein.
Die neuen EU-Nationen haben sich noch nicht entschieden, welchen Weg sie in Zukunft einschlagen wollen. Klar ist, dass man den neuen EU-Bürgern, vor allem in Osteuropa, nur jene Sozialleistungen versprechen darf, die auch auf Dauer finanzierbar sind.
Tom Rolff arbeitet als Zeitungs- und Hörfunkkorrespondent in Brüssel.