EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso wurmt es, wenn seiner Behörde unterstellt wird, sie habe nur die Märkte im Blick, nicht aber die Menschen. "Wir kümmern uns um ihre Belange", beteuerte der Portugiese deshalb gleich mehrfach als es jüngst um die Probleme von Arbeitnehmern ging, deren Jobs durch Standortverlagerungen nach Osteuropa oder Asien bedroht sind.
Mit einem speziellen Fonds, der die negativen Folgen der Globalisierung abfedern soll, will die Kommission demonstrieren, dass es ihr mit der "sozialen Dimension" im zusammenwachsenden Binnenmarkt ernst ist. Überzeugt hat Brüssel die Bürger Europas allerdings noch lange nicht. Ob beim "non" der Franzosen und dem "nee" der Niederländer zur EU-Verfassung vergangenes Jahr, ob bei den Demonstrationen von Hafenarbeitern und Gewerkschaftern gegen die Hafenrichtlinie oder gegen die Dienstleistungsrichtlinie vor wenigen Wochen: Das Misstrauen gegenüber einer "unsozialen", "marktradikalen" oder "neoliberalen" Europäischen Union, die "soziale Standards aushebelt", sitzt tief. Genauso wie die Angst vor einem Markt, der im doppelten Sinne grenzenlos ist. Die Sorge, durch Jobverlust oder Lohnabbau beim Wegfall von Grenzen zu den Verlierern zu gehören, ist nachvollziehbar. Schließlich bedeuten Wettbewerb und Marktöffnung eine schärfere Konkurrenz der Standorte und der Arbeitsbedingungen. Und diese Entwicklung beschleunigt die Prozesse der Verdrängung und Verlagerung vor allem in einer Gemeinschaft von 25 Ländern mit bislang noch höchst unterschiedlichen sozialen Sicherungssystemen und Einkommen.
Spannungen sind programmiert, solange die Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung beispielsweise in den baltischen Staaten weniger als die Hälfte des EU-Durchschnitts ausmacht und solange die Körperschaftssteuersätze in Slowenien, Ungarn oder Lettland nur rund halb so hoch liegen wie etwa in Deutschland.
Die EU-Kommission nimmt für sich indes in Anspruch, nicht Teil des Problems zu sein, sondern Teil der Lösung. Schließlich beförderten die EU-Erweiterung und die damit verbundene Unterstützung des dortigen wirtschaftlichen Aufholprozesses das Wachstum in den neuen Mitgliedstaaten. Mit anderen Worten: Gerade die EU sorge dafür, dass sich die Wohlstandsniveaus einander angleichen und somit sozialen Konfrontationen vorgebeugt werde. Mit steigenden Einkommen und einer umfassenderen Absicherung der Lebensrisiken sinke nämlich das Interesse von Slowaken oder Litauern, auf die Arbeitsmärkte im Westen zu drängen.
Schon heute sei die Besorgnis vor einer ökonomisch getriebenen Völkerwanderung innerhalb der EU-Grenzen unbegründet, erklärt Sozialkommissar Vladimir Spidla. Eine kürzlich von ihm vorgelegte Zwischenbilanz gut eineinhalb Jahre nach der Erweiterung um zehn Nationen dokumentiert, dass der Anteil der Arbeitnehmer aus dem Osten in Schweden, Irland und Großbritannien seither kaum gestiegen und mit Null-Komma-Werten weiterhin eine statistische Randgröße ist. Die drei Staaten sind die einzigen der alten "EU-15", die bereits vollständige Freizügigkeit zulassen.
Zugleich beansprucht Brüssel für sich, Garant sozialer Rechte zu sein, wenn es um die genau entgegengesetzte Perspektive geht. Wenn also nicht die gefühlten oder tatsächlichen Risiken für Arbeitnehmer durch die Konkurrenz von "Einwanderern" aus EU-Nachbarstaaten ins Blickfeld gerückt werden, sondern - umgekehrt - die Chancen derer, die ins Ausland gehen.
Zweifelsohne haben diese Beschäftigten der EU wichtige soziale Absicherungen und Erleichterungen zu verdanken, die in vielen Fällen Mobilität erst ermöglichen. Wer etwa einige Jahre in Frankreich gearbeitet hat, dann nach Irland wechselt und seinen Lebensabend in Dänemark verbringt, ist darauf angewiesen, dass Rentenansprüche und Versicherungsleistungen über Landesgrenzen hinweg angerechnet werden. Dafür sorgen mittlerweile EU-Vorgaben oder Entscheidungen des Luxemburger Gerichtshofs.
Europäisches Recht ist auch verantwortlich dafür, dass polnische Erntehelfer nicht mehr ohne Sozialversicherungsschutz in Weinbergen oder auf Spargelfeldern tätig sind, wenn sie in ihrer Heimat Urlaub nehmen, um in Deutschland einen oder zwei Monate lang Geld zu verdienen.
Beim Streit, ob die EU soziale Standards aufweicht oder sie ganz im Gegenteil erst sichert, verweisen Brüsseler Beamte zudem auf zahlreiche Schutzrechte, die auf Initiativen der Kommission zurückgehen. Dazu zählen vor allem Normen beim Arbeitsschutz. Zu einer gewissen Berühmtheit haben es in der öffentlichen Diskussion zuletzt die Regeln zum Schutz vor Strahlenbelastung am Arbeitsplatz gebracht, weil sie - als "Sonnenschein-Richtlinie" verspottet - zunächst für allerlei Irritationen gesorgt hatten. Ebenfalls treibende Kraft ist die Union beim Thema Chancengleichheit von Arbeitnehmern - unabhängig von Alter oder Weltanschauung.
Das alles ändert freilich wenig daran, dass Sozialpolitik im klassischen Sinne eine nationale Domäne bleibt. Brüssel mag die Wiedereingliederung und Umschulung fördern, finanzielle Mittel für Arbeitsmarktinstrumente zur Verfügung stellen oder wie aktuell "Globalisierungsopfern" zur Seite springen. Der traditionelle Kern des Sozialstaats vom Arbeitslosengeld über die Studienförderung bis zur Rente unterliegt nach wie vor der Zuständigkeit der Mitgliedsländer. Insofern ist die Gemeinschaft der 25 von einer gemeinschaftlichen Sozialpolitik weit entfernt. Und das dürfte noch lange Zeit so bleiben. "Eine einheitliche europäische Sozialpolitik im Sinne der Harmonisierung der großen Systeme der sozialen Sicherheit halte ich auf absehbare Zeit für reine Illusion", lautet die klare Ansage von EU-Industriekommissar Günter Verheugen.
Vor diesem Hintergrund gehen denn auch die Urteile darüber weit auseinander, wie "sozial" die Union ist und wie "sozial" sie überhaupt sein kann. Eine Einschätzung lautet, dass die EU bereits viel stärker sozialpolitisch wirkt als wahrgenommen. Dass unterschätzt wird, wie weitreichend die Initiativen und Entscheidungen von Kommission, Parlament, Gerichtshof und Ministerräten soziale Schutzrechte und Leistungen festigen oder sogar erst etablieren. Vom "Eisberg Europa" ist die Rede: Nur ein kleiner Teil der Maßnahmen, die in Brüssel oder Straßburg vorbereitet und beschlossen werden, ist erkennbar - der Löwenanteil findet quasi unbemerkt "unter der Wasseroberfläche" statt. Eine andere Position behauptet, dass sich die Anstrengungen der EU, soweit es um soziale Normen geht, in einer symbolischen Politik von Gesten und kleinen Korrekturen erschöpften. Verwiesen wird unter anderem darauf, dass europäische Vorgaben ihre engen Grenzen finden, wenn sie in Konkurrenz zu nationalem Arbeits- oder Tarifrecht treten.
So hat zuletzt der Streit über die Dienstleistungsrichtlinie veranschaulicht, dass eine "europäische" Lösung erst möglich wurde, nachdem den Mitgliedstaaten umfangreiche Spielräume für eigene Regelungen - und eben auch für Ausnahmen von den vereinbarten Prinzipien - eingeräumt wurden. Die Brüsseler Kommission bleibt in jedem Fall vor die schwierige Aufgabe gestellt, die "soziale Dimension" ihrer Richtlinien und Verordnungen sichtbar zu machen. Umfragen unter den Bürgern in der Europäischen Union belegen, dass die Öffentlichkeit nur ansatzweise registriert, mit welchen Programmen und Initiativen sich Brüssel um den Schutz derer bemüht, die im gemeinsamen Markt nach Meinung der Union einer Unterstützung bedürfen.
Die Brüsseler Behörde und die gerade amtierende österreichische Ratspräsidentschaft haben sich zum Ziel gesetzt, den "european way of life" zu profilieren. Dahinter steckt die Überzeugung, dass die Union nicht nur für Wettbewerb steht, sondern auch für Solidarität. Bei der Vorbereitung des zweiten Anlaufs für die Verfassung spielt dieser Gedanke eine zentrale Rolle. Im Gespräch ist unter anderem die Ergänzung des bisherigen Verfassungstextes durch eine entsprechende politische Erklärung. Bis solche Überlegungen entscheidungsreif sind, dürften freilich noch einige EU-Gipfel ins Land gehen. Noch länger wird es wohl dauern, bis das Misstrauen der Bürger gegenüber einem Binnenmarkt ohne Grenzen schwindet. Kommissionspräsident Barroso muss sich deshalb darauf einstellen, dass Brüssel noch lange Zeit anders wahrgenommen wird, als er es gerne hätte.
Detlef Fechtner ist Korrespondent der "Frankfurter Rundschau" in Brüssel.