Das Parlament: Die Dienstleistungsrichtlinie ist nicht zuletzt auch wegen der Proteste der Gewerkschaften modifiziert worden. Was sagen Sie zu dem Vorwurf, die Gewerkschaften behindern den Binnenmarkt und damit den Aufschwung?
Michael Sommer: Wir wollen einen einheitlichen Binnenmarkt. Wir wollen aber nicht, dass durch das Herkunftslandprinzip, die Sozial-, Umwelt- und sonstigen Standards in den Mitgliedstaaten kaputt gemacht werden. Das hätte einen enormen Dumpingwettbewerb zur Folge und Behauptungen, dadurch wären 600.000 Arbeitsplätze entstehen, sind durch nichts belegt - wahrscheinlich würde das Gegenteil passieren. Wir wollen, dass jeder seine Dienstleistung anbieten kann, aber zu den Bedingungen des jeweiligen Landes. Denn dann gibt es Wettbewerb um Innovation und Qualität und nicht um niedrigere Löhne.
Das Parlament: Schwächt sich ein Europa, das seine Eigenheiten ausprägen kann, nicht doch wirtschaftlich?
Michael Sommer: Nein. Wichtig ist, dass wir einen gemeinsamen funktionierenden Binnenmarkt mit vergleichbaren Standards und Regeln schaffen. Wo wir noch nicht so weit sind, müssen nationale Bereiche respektiert werden. Gerade dann wird Europa in der Lage sein, sich im Prozess der globalisierten Konkurrenz zu behaupten. Zu meinen, man würde mit Billigarbeit und Abschaffung von sozialen Rechten im Dienstleistungsbereich Kostenvorteile im globalisierten Wettbewerb haben, ist einfach Blödsinn. Heute haben wir diese verrückte Standortkonkurrenz ja auch bei den Produktionsstätten, wegen der unterschiedlichen Steuersysteme. Auf der einen Seite gibt es eine gemeinsame Subventionspolitik und auf der anderen Seite unterschiedliche Steuergesetze. Deshalb sind nationale Schutzregeln innerhalb der EU noch notwendig.
Das Parlament: Besteht nicht gerade bei den Dienstleistungen die Gefahr der Schwarzarbeit?
Michael Sommer: Das Problem der Schwarzarbeit stellt sich immer. Aber Sie bekämpfen Schwarzarbeit nicht mit Richtlinien, sondern mit staatlichen Kontrollen. Da kommen wir auf ein anderes Thema. Wenn Sie Sozialdumping bekämpfen wollen, müssen Sie erstmal definieren, was Sozialdumping ist. Das steht noch aus. Dafür brauchen wir relativ klare Regeln, die wir noch nicht haben. Auch die Dienstleistungsrichtlinie verliert sich nach dem Beschluss des Europäischen Parlamentes sehr im Allgemeinen mit unbestimmten Rechtsbegriffen. Da müssen wir, auch im Europäischen Rat, zu klaren Regeln zu kommen.
Das Parlament: Haben Sie einen konkreten Vorschlag?
Michael Sommer: Wir unterstützen im Prinzip den Kompromiss des Europäischen Parlamentes und werden der Bundesregierung detaillierte Vorschläge machen. Ich in zuversichtlich, dass die deutsche Regierung den Kompromiss weiterhin unterstützen wird. jetzt mit Detailvorschlägen an die Bundesregierung treten. Der EU-Kommissar für den Binnenmarkt, Charlie Mc Creevy, dagegen, denkt überhaupt nicht daran, den Kompromiss umzusetzen. Artikel 16, der "Freiheit der Dienstleistung" heißt und früher Herkunftslandprinzip hieß, könnte wieder so uminterpretiert werden, dass zum Schluss doch das Herkunftslandprinzip gilt. Das wäre die soziale Kriegserklärung an alle Kritiker und würde auch von uns nicht unbeantwortet bleiben.
Das Parlament: Sehen Sie die Möglichkeit von einheitlichen Standards in Europa vor dem Hintergrund der verschiedenen Sozialsysteme?
Michael Sommer: Wir haben keine andere Wahl als den Weg der Vereinheitlichung zu gehen. Zunächst wird es sicher zu punktuellen Annäherungen kommen. Wie diese Vereinheitlichung letztlich aussehen wird, läßt sich jetzt noch nicht sagen. Heute haben wir sehr unterschiedliche Rechtssysteme und Arbeitsrechtstraditionen und noch keinen Rechtsrahmen für transnationale Tarifverhandlungen. Jede Menge Einzelpunkte müssen geregelt werden und die bisherigen Instrumente reichen dazu nicht aus. Von der Kommission, die mehrheitlich neoliberal geprägt ist, ist nicht zu erwarten, dass sie die Sozialsysteme auf einem vernünftigen Niveau harmonisiert. Die Gewerkschaften selber tun sich in der konkreten Zusammenarbeit extrem schwer. Ich glaube, der Weg führt nur über das Projekt der europäischen Verfassung mit einem sozialen Grundrechte-Katalog, den wir für verbindlich erklären und zum Handlungsrahmen für europäische Politik machen. Deshalb waren wir auch immer dafür, die Verfassung zu verabschieden. Die Menschen in Europa kann man nur überzeugen, wenn man tatsächlich das Projekt eines sozialen Europas angeht.
Das Parlament: Die europäische Idee der gleichen sozialer Lebenschancen sieht der lettische Dachdecker womöglich nicht verwirklicht, solange er hier nicht arbeiten darf. Ist das nicht ein Widerspruch?
Michael Sommer: Ich glaube nicht, dass es der Traum eines lettischen Dachdeckers ist als Wanderarbeiter durch Europa zu tingeln. Er wird sicher einen Arbeitsplatz in seinem Heimatland vorziehen. Unsere Sorgen ist, dass polnische Unternehmen heimische Firmen zum Dumping zwingen und viele pleite gehen. Östlich von Berlin können wir sehen, wie Arbeit exportiert wird. Die Krankenhauswäsche von Berlin wird in Polen gewaschen, da ist Europäisierung sehr konkret. Wenn die polnische Firma ihre Leistung anbieten will, soll sie das tun, aber nicht auf der Grundlage von Lohndumping, sondern von Leistung und Qualität.
Das Parlament: Europaparlamentarier klagen, dass die Gewerkschaften Europa oftmals zum Sündenbock erklären würden, Stichwort Dienstleistungsrichtlinie..
Michael Sommer: Wer sich für ein soziales Europa stark macht, wird die Gewerkschaften immer auf seiner Seite haben. Denn: Europa wird sein, wenn es sozial ist und wird nicht sein, wenn es nicht sozial ist. Je mehr wir uns mit Europa beschäftigen, und sei es auch kritisch mit einzelnen Aspekten, um so besser ist das für das Europa-Bewusstsein der Bevölkerung, und das war noch nie so groß wie jetzt im Zeichen der Dienstleistungsrichtlinie. Wir haben dazu beigetragen, ein europäisches Thema in den Mittelpunkt zu stellen. Denn wir alle haben eine Anspruch darauf, dass Europa nicht nur Wirtschaftsregion, sondern auch sozialer Lebensraum ist.
Das Interview führten Sabine Quenot und Annette Sach