Der Malermeister aus Aachen, der im belgischen Eupen eine Wohnung streichen will, müsste sein Werkzeug eigentlich in einem dort zugelassenen Wagen transportieren. Den Meisterbrief eines deutschen Augenoptikers, der in Belgien eine Filiale eröffnen will, erkennt die dortige Behörde nicht an. Ein bayerischer Skilehrer kann in Österreich nicht legal arbeiten, weil er eine Bescheinigung vorlegen muss, dass er nicht insolvent ist - ein solches Zertifikat ist aber in deutschen Amtsstuben unbekannt. Will ein badisches Unternehmen in Straßburg einen Lift reparieren, hat es seine Arbeiter bei elsässischen Behörden eine Woche vorher anzumelden. In Luxemburg müssen ausländische Baufirmen Kräne einer Überprüfung unterziehen, auch wenn am heimischen Standort bereits ein TÜV-Check stattfand. In Portugal müssen sich Klimaanlagenbauer aus anderen Staaten in ein Unternehmensregister eintragen lassen, wofür eine Prüfung nötig ist - auf Portugiesisch.
Solche Hürden soll die EU-Dienstleistungsrichtlinie aus dem Weg räumen. Doch aus dem weitreichenden Konzept der Brüsseler Kommission wird wohl nichts. Vor allem angesichts massiver Proteste der Gewerkschaften, die Arbeitnehmer durch Lohndumping einer Billigkonkurrenz besonders aus Osteuropa bedroht sehen, wurde über die vom Straßburger Parlament in erster Lesung verabschiedete Richtlinie im Vorfeld so lange gestritten, bis sie zu den Vorurteilen über die EU passte: kompliziert, bürokratisch und praxisfern zu sein.
Das Regelwerk soll eine der letzten Lücken in der Gesetzgebung zum Binnenmarkt schließen. Ziel dieses in den sechziger Jahren geborenen Projekts ist die Schaffung eines gemeinsamen Markt, in dem Waren und Kapital frei gehandelt werden, Arbeitnehmer sich in jedem Mitgliedsland niederlassen und Dienstleistungen EU-weit ohne Hindernisse ausgeübt werden können.
Der Abbau von Zöllen gelang rasch. Doch dann zog sich die Realisierung des Binnenmarkt bis 1993 hin. Seither aber ist der freie Waren-, Dienstleistungs-, Personen- und Kapitalverkehr offiziell als Prinzip verankert. Bei Waren und Kapital sind Beschränkungen nahezu völlig weg. Die Freizügigkeit von Arbeitnehmern ist unterschiedlich geregelt.
Mit der Marktöffnung für Dienstleistungen hapert es indes immer noch. Dabei bremst dieses Manko des Binnenmarktes den Wandel der EU von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft. Nach Brüsseler Schätzungen tragen in den meisten Mitgliedsnationen Dienstleistungen 70 Prozent zur Wirtschaftsleistung bei.
Der Streit um die Dienstleistungsrichtlinie beleuchtet exemplarisch die Crux, dass EU-weit keine einheitlichen Regelungen bei Sozialstandards existieren. Die finanzielle Absicherung bei Erwerbslosigkeit und Krankheit sowie im Alter wird weithin auf nationaler Ebene organisiert. In dieser Zuständigkeit wollen sich die Mitgliedsländer ihre Unabhängigkeit bewahren. Dass diese Politik in eine Sackgasse mündet, hätten die Regierungschefs spätestens beim Beitritt der zehn neuen Staaten 2004 ahnen können. Gäbe es in der EU ein einheitliches System zur Einführung von Mindestlöhnen, würde vermutlich nicht so erbittert um die Dienstleistungsrichtlinie gekämpft: Die Furcht von Dumpinglöhnen ausländischer Konkurrenz wäre unbegründet. Das neue Regelwerk zu Dienstleistungen ist insofern auch ein Versuch, eine gemeinschaftliche EU-Sozialpolitik anzustoßen.
Nach dem Willen der Kommission sollte ein Anbieter von Dienstleistungen EU-weit nach den Konditionen seines Heimatorts arbeiten. Das praktiziert bereits der Dachdecker aus Mecklenburg-Vorpommern, der in Stuttgart einen Auftrag ergattern will. Dass ein schwäbischer Handwerker benachteiligt sein könnte, weil sein ostdeutscher Konkurrent vergleichsweise niedrigere Stundenlöhne zahlt und zudem eventuell von Subventionen profitiert, wird hingenommen. Im nationalen Rahmen ist das Herkunftslandsprinzip längst akzeptiert.
Auf EU-Ebene sieht das freilich anders aus. Die Gewerkschaften organisierten wirkungsvolle Demonstrationen gegen das Herkunftslandsprinzip. Angesichts der Widerstände formte das Parlament aus dem Vorschlag der Kommission einen Kompromiss, der salomonisch anmutet, im Kern aber eine Ansammlung von Steilvorlagen für Klagen beim Luxemburger Gerichtshof ist.
Einerseits strichen die Abgeordneten aus der Richtlinie das Herkunftslandsprinzip. Andererseits aber sollen ausländische Anbieter gegenüber einheimischen Wettbewerbern nicht benachteiligt werden dürfen. Spezielle Auflagen dürfen wiederum beim Gesundheits- und Umweltschutz sowie zur Sicherstellung der öffentlichen Ordnung gemacht werden. Zudem gibt es eine lange Liste von Dienstleistungen, die vom Geltungsbereich des Regelwerks ausgenommen sein sollen: Dazu gehören etwa "Dienstleistungen von allgemeinem Interesse gemäß der Definition in den Mitgliedstaaten" oder Verkehrs- und Gesundheitsdienstleistungen. Ein Auslegungsstreit ist programmiert Letztlich dürften sich Kommission, Ministerrat und EU-Parlament auf einen Kompromiss einigen, der Richtern und nationalen Gesetzgebern noch viel Kopfzerbrechen bereiten wird.
Uwe Roth ist Redakteur der Zeitung "Sonntag aktuell" in Stuttgart.