Einen solchen Sturm hat das Parlament in Straßburg noch nicht erlebt. Tausende Hafenarbeiter zogen auf, um gegen mehr Wettbewerb unter Dienstleistern in Europas Seehäfen zu protestieren. Drinnen berieten die Abgeordneten - und stimmten am Ende mit großer Mehrheit gegen die von der Kommission angestrebte Liberalisierung der Hafendienste.
Die Volksvertretung sei vor den Demonstranten eingeknickt, kritisiert der zuständige Berichterstatter Georg Jarzembowsik. Was dem CDU-Politiker als Menetekel gilt, markiert für andere einen Meilenstein. Klaus Hänsch, seit 1979 Abgeordneter in Straßburg und zeitweilig Parlamentspräsident, reiht das Scheitern der Hafen-Richtlinie unter die Erfolge ein. Wieder einmal habe sich die Volksvertretung selbstbewusst gegen andere EU-Organe durchgesetzt. Bisher ist das bei zwei Dritteln aller EU-Gesetze der Fall.
Auch Vizepräsident Ingo Friedrich konstatiert, dass sich der Einfluss des Parlaments spürbar erhöht hat. Der bayerische Abgeordnete spricht der Volksvertretung auch die Rolle des Sachwalters von Bürgerinteressen gegenüber einer ausufernden Brüsseler Bürokratie zu. Das Parlament habe begriffen, "dass der Weg in die Beglückungsgesetzgebung ein Irrweg ist". Die Kommission versuche, etwa mit Warnhinweisen bei Süßigkeiten, "die Menschen vor sich selber zu schützen". Hier müsse und wolle Straßburg bremsen.
Nach den EU-Verträgen steht dem Parlament das Mitentscheidungsrecht insbesondere in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Kultur sowie Verbraucher- und Umweltschutz zu. Der Aufnahme neuer Mitgliedsländer müssen die Abgeordneten ebenso zustimmen wie der Etatplanung. Der auf Eis gelegte Verfassungsvertrag würde über 90 Prozent aller EU-Gesetze der Mitentscheidung durch die Volksvertretung unterwerfen - mit Ausnahme von Steuerfragen, der Arbeitsmarkt-sowie der Außen- und Verteidigungspolitik.
Die Abgeordneten haben ihre begrenzten Rechte klug genutzt und so in der Praxis erweitert. Als die Regierungen planten, im Zuge der Terrorbekämpfung Telefon- und Internetdaten länger zu speichern, pochten alle Fraktionen auf eine parlamentarische Beteiligung. Juristisch sind die Kompetenzen der Volksvertretung bei diesem Thema strittig. Aber politisch konnten die Abgeordneten genug Druck erzeugen, um in dieses EU-Rahmengesetz mehr Datenschutz einzubauen.
"Grundsätzlich ist ein geschlossenes Parlament sehr, sehr stark", meint Alexander Alvaro, der seit 2004 für die FDP in Straßburg sitzt. So erreichte das Parlament jüngst, dass die Kommission einen Vorschlag für eine Richtlinie zum Einsatz erneuerbarer Energien ausarbeitet. Dieser Fall zeigt, dass das Initiativrecht für EU-Gesetze entgegen den formalen Regeln faktisch nicht mehr allein bei der Brüsseler Behörde liegt.
Diese Meinung älterer Kollegen teilen nicht alle - vor allem nicht jüngere Parlamentarier. Mit seinen 30 Jahren hat Alvaro hohe Erwartungen und vergleicht das Heute nicht einfach mit dem deutlich schlechteren Vorgestern. Dem EU-Parlament fehle die von Regierungs- und Oppositionsfraktionen geprägte Debattenkultur im klassischen Sinne, bemängelt der Liberale. Er hofft auch auf wahrhaft europäische Parteien und Wahlkämpfe, beides hat bisher noch einen weithin einzelstaatlichen Charakter (siehe Seite 17). Dabei gerät der europäische Gedanke aus dem Blick. Die Zusammenarbeit über Fraktionsgrenzen hinweg weiß Alvaro trotzdem durchaus zu schätzen: "Man kann sachorientiert mit wechselnden Mehrheiten arbeiten."
Auch der ehemalige Parlamentspräsident Hänsch meint, die Volksvertretung kontrolliere in ihrer Gesamtheit die Brüsseler Zentralgewalt. Die EU habe keine von einer Parlamentsmehrheit getragene Regierung mit einer Opposition als Gegengewicht. Die Kehrseite dieser Konstellation: Die Abgeordneten aller Parteien befinden sich in einer Art Daueropposition gegenüber Kommission und Ministerrat. Weil Straßburg aber die Europaskepsis der Bürger durch permanenten Streit nicht noch anheizen will, müssen die Abgeordneten ihren Widerstand gegen die Brüsseler Zentrale fein dosieren. Unter diesem Dilemma leidet das politische Profil des Parlaments: Die Beteiligung an EU-Wahlen ist stetig gesunken.
Seinen bisher größten Coup landete Straßburg bei der Bestallung der jetzigen Barroso-Kommission. Bei den Anhörungen ließen die Abgeordneten mit dem Italiener Rocco Buttiglione und der Lettin Ingrida Udre zwei Kandidaten durchfallen, die auch prompt ausgetauscht wurden. Doch die Anhörung der Kommissare in spe musste sich das Parlament erst erstreiten. Hänsch erinnert sich, wie ihn der einstige Kommissionspräsident Jacques Delors vor über zehn Jahren wütend warnte, ein solches Anhörungsrecht einzufordern. "Das steht nicht in den Verträgen", erregte sich Delors. Am Ende hatte die Volksvertretung ein scharfes Instrument in der Hand, das ihr Einfluss und öffentliche Aufmerksamkeit sichert.
Gerold Büchner ist Korrespondent der "Berliner Zeitung" in Brüssel.