Es herrschte seltene Einmütigkeit am 6. April 2001 im Deutschen Bundestag: Das Sozialgesetzbuch IX zur Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen wurde in dritter Lesung verabschiedet - und alle Fraktionen, außer die PDS, stimmten zu. Den Sozialisten ging das Gesetz nicht weit genug. So kritisierte der Abgeordnete Ilja Seifert: "In vielen Punkten konnten Sie sich nicht dazu durchringen, tatsächlich einen Paradigmenwechsel vorzunehmen." Trotz Zustimmung für das verabschiedete Reformpaket fielen die Bewertungen des Gesetzes auch durch die anderen Oppositionsfraktionen teilweise sehr unterschiedlich aus: Was von der Regierungskoalition aus Sozialdemokraten und Grünen als "Meilenstein der Sozialpolitik" gefeiert wurde, so der damalige Bundesarbeitsminister Walter Riester (SPD), bedurfte aus Sicht von CDU/CSU und FDP noch weitreichender Nachbesserungen.
"Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden." Der Artikel 3 des Grundgesetzes war nur eine der Zielsetzungen des verabschiedeten Gesetzentwurfes. Als maßgeblich erschien die Förderung von mehr Selbstbestimmung und gleichberechtigter Teilhabe behinderter Menschen am gesellschaftlichen Leben. Darunter wurde die Anerkennung der Gebärdensprache im Sozialrecht ebenso verstanden, wie eine verbesserte Beteiligung im Arbeitsleben.
Karl Hermann Haack, der damalige Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, bezeichnete das Gesetz als den Beginn einer neuen Etappe in der Sozialpolitik: Man müsse "weg von dem fürsorgerischen Denken" und stattdessen hinarbeiten "auf einen Alltag, in dem die Selbstbestimmung behinderter Menschen auch im Umgang mit den Institutionen der Sozialpolitik" ermöglicht werde. Es gehe um eine über finanzielle Zuwendungen weit hinaus wirkende Unterstützung und um die Integration in die Gesellschaft. Das Gesetz, so Haack, bestehe im Wesentlichen aus drei Bausteinen: einem besseren Instrumentarium zur Integration Behinderter in die Arbeitswelt; mehr Selbstbestimmung durch Wunsch- und Wahlleistungen und dem Abbau von Bürokratie.
Das verabschiedete Sozialgesetzbuch brachte in der Tat Verbesserungen für die Betroffenen. So wurde zum Beispiel die von den Behindertenverbänden stets mit Nachdruck gestellte Forderung nach einer Einstellung der jährlichen Bedürftigkeitsprüfungen der betroffene Familien erfüllt. Sie wurde durch pauschale Zahlungen an die Eltern von Behinderten ersetzt.
Ein anderer Aspekt war die Frühförderung. Das SGB IX sieht nach Paragraf 30 ausdrücklich "besondere nicht ärztliche Leistungen zur Früherkennung und Frühförderung vor".
Mehr Selbstbestimmung für die Behinderten brachte die Möglichkeit, Vermögen zu besitzen oder zu erben. Zuvor war das Einkommen behinderter Menschen beziehungsweise ihrer Eltern in die Eingliederungshilfe, etwa für Behindertenwerkstätten, ein- bezogen worden. Auch die Regelung, dass die Gebärdensprache im Kontakt mit den Sozialleistungsträgern genutzt werden kann, oder die erweiterten Möglichkeiten bei der Wahl der Betreuung - etwa in Form eines persönlichen Budgets - brachte die Betroffenen ihrem Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben ein großes Stück näher. "Es geht um ein besseres Recht, aber es geht auch um ein besseres Leben für diese Menschen", freute sich Walter Riester über das verabschiedete Gesetz.
Die Einstellung der regelmäßigen Bedürftigkeitsprüfungen bewog die Liberalen trotz aller Vorbehalte, dem Gesetzentwurf zuzustimmen. "Ich glaube, es ist sehr wichtig, dass wir es mit diesem Gesetz schaffen, hier eine Änderung zu erreichen und die betroffenen Familien ent- sprechend zu entlasten", argumentierte der Abgeordnete Heinrich Kolb in der Debatte.
Die ehemalige Sozialministerin Claudia Nolte (CDU/CSU) begründete die Zustimmung ihrer Fraktion so: Das Gesetz "enthält Ansätze, auf denen man weiter aufbauen kann und die geeignet sind, das Selbstbestimmungsrecht und die Autonomie der von Behinderung betroffenen Menschen zu stärken". Kritik übte sie allerdings am Reha-Recht. Dies sei der "größte Schwachpunkt" der Reform.