Der 5. Juli 2001 - in der 14. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages - war ein besonderer Tag: Das erste eDemokratie-Pilotprojekt kam auf die Schiene. Heute müsste ergänzt werden: Premiere ohne Folgen - jedenfalls bis jetzt. Auf Initiative der damaligen rot-grünen Koalitionsfraktionen und des Bundestags-Unterausschusses "Neue Medien" sollten damals am Beispiel der laufenden Gesetzgebung zur Modernisierung des Informationsrechtes die Chancen und Möglichkeiten einer eDemokratie ausgelotet werden. Das Neue war: Zum ersten Mal wurde ein Gesetz nicht nur im Parlament beraten, sondern konnte auch mit Beiträgen von Bürgern, wo auch immer sie sich einklickten, über das Internet diskutiert werden. An das "e" für elektronisch knüpften die Beteiligten besondere Erwartungen. Knapp 300 Teilnehmer ließen sich registrieren. Es war also nicht nur eine interessierte Fachszene, die Einfluss nehmen konnte, wie das zum Beispiel bei Anhörungen in Ausschüssen üblich ist.
Ein Anliegen war, Bürgerwissen als Expertenwissen in die Gesetzesarbeit einfließen zu lassen. Doch das vorrangig definierte Ziel war nicht der basisdemokratisch optimierte Gesetzentwurf, sondern es ging vor allem darum, ein neues Verfahren in der "elektronischen Demokratie" zu erproben und erste Erfahrungen mit diesen neuen Möglichkeiten zu sammeln. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Jörg Tauss, damals Vorsitzender des Unterausschusses, sprach von einem "weiteren Meilenstein bei der Entwicklung sinnvoller neuer Angebote für die politische Kommunikation in elektronischen Netzwerken". Die Euphorie, die aus diesen Worten spricht, wurde von der Realität schnell eingeholt. Zahlreiche Teilnehmer kritisierten insbesondere die technischen Rahmenbedingungen und bewirkten auf diese Weise einen Relaunch, also eine Überarbeitung des Angebots, das dann im September 2002 ins Netz ging. Die inhaltliche Bedeutung des Projektes sei, vermerkt der Moderator des Projekts, der Rechtswissenschaftler Johann Bizer, dadurch beeinträchtigt worden, dass unter anderem als Nachwirkungen der Terroranschläge vom 11. September 2001 keines der für das Forum vorgesehenen Gesetzesvorhaben den Deutschen Bundestag erreichte.
Wer sich heute über die eParlament-Intitiativen ein aktuelles Bild machen möchte, sich gar nach Chancen umsieht, wo eine Bürgerbeteiligung in der Gesetzesarbeit dank neuer elektronischer Wege überhaupt möglich ist, steht ziemlich auf verlorenem Posten. Die Recherchen im Netz führen, wenn es um die Bundesebene geht, zum Archiv des Modellprojekts von 2001.
War es das seitdem wirklich schon? Theoretisch ein Meilenstein, praktisch ein Trippelschritt? Oliver Märker, Wissenschaftler am Fraunhofer eGovernment Zentrum in St. Augustin bei Bonn nennt Deutschland "Entwicklungsland", was die Einbeziehung des Bürgers in den Gesetzgebungsprozess betrifft. Was da möglich sei, entspreche in Deutschland nicht dem Stand der Kunst. Märker hat Forschungsprojekte zu e-Partizipation auf kommunaler und regionaler Ebene durchgeführt und nach Erklärungen gesucht, warum die Republik beispielsweise im Vergleich mit Großbritannien etwa fünf Jahre in der Entwicklung zurückliegt. Im Unterausschuss "Neue Medien" präsentierte er Anfang 2005 ein Thesenpapier "Eckpfeiler für das Projekt eParlament des Deutschen Bundestages". Er diagnostiziert eine Angst vor neuen Prozessen und deutet sie auch als eine Angst vor Machtverlust. Vorhandene Prozesse umkrempeln und neu strukturieren zu müssen, schrecke viele ab. Es sei eine Scheu da, mit dem Souverän via Netz in Kontakt zu treten. Im Idealfall - so sieht es der Wissenschaftler - sei der Bürger als Experte ein wertvoller Partner.
So wertet jemand, der in die Zukunft denkt. Johann Bizer, der Moderator des Modellprojekts, hat die Praxis erlebt. Da gab es Leute die sich "ausmüllten", die Politiker und Politikerinnen beschimpften und offensichtlich die Verhaltensregeln, die "Netikette", bewusst missachteten. Elektronische Interaktion müsse gelernt und ein Mindestmaß an Konvention eingehalten werden, unterstreicht der Rechtswissenschaftler. Die Möglichkeit, beim Bundestag seit einigen Monaten öffentliche Petitionen elektronisch einreichen zu können, sieht er als gute Vorstufe für die Beteiligung an Gesetzgebungsprozessen.
Dass in der Berücksichtigung von Bürgerwissen ein großes Potenzial liegt, ist unbestritten. Oliver Märker bewertet diese Chance vor dem Hintergrund, dass es immer schwieriger sei, Gesetze zu erarbeiten, weil die Gesellschaft und ihre Probleme immer vielschichtiger würden. Und er kritisiert die Denke mancher Politiker, dass die interaktiven Angebote deshalb so schwer zu realisieren seien, weil sich Bürger zu wenig beteiligten. Weil sie zu passiv seien, so die Kritik, gäbe es die interaktiven Angebote eben nicht. Der Souverän müsse ja nicht bei jedem Gesetz eingebunden werden, hält Märker den Zauderern entgegen. Aber es biete sich an, beispielsweise bei Gesetzen zur häuslichen Gewalt das Wissen von Frauen einfließen zu lassen. Über derartiges Erfahrungswissen könnten Politiker nicht verfügen. Statt Offenheit, grassiere allerdings Skepsis, ob die Mechanismen, die die moderne Kommunikation bestimme, noch zu kontrollieren seien.
Durch den neuen Kommunikationskanal Internet kommt allerdings eines hinzu: Der Bürger erwartet eine andere Rückmeldung durch die Politik. Wenn die Erwartungen von Bürgern enttäuscht werden, entwickelt sich Protest. Gefragt ist also eine andere Politikkultur. Dass der politische Wille nicht erloschen ist, sich aber nur zögerlich Bahn bricht und von einer gewissen Unsicherheit gekennzeichnet ist, macht eine Formulierung in der Rede der Bundestagsvizepräsidentin Susanne Kastner Mitte März in Prag auf der EPRI-Konferenz 2006, ein Treffpunkt für neue Informations- und Kommunikationstechnologien, deutlich: "Es ist daran gedacht, einzelne Gesetzgebungsvorhaben von ihrer Einbringung in den Deutschen Bundestag an möglichst transparent darzustellen und den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit zu unmittelbarer Stellungnahme und zur Diskussion zu geben." Wie das konkret aussehen soll, ist noch offen.
Dass eDemokratie-Projekte im Vergleich zu eGovernment oder eVerwaltung die Grundlagen des gesellschaftlichen und politischen Selbstverständnisses berühren, verdeutlicht eine andere Passage aus Kastners Rede: "Das Internet wird uns als gewählte Volksvertreter bei der Formulierung und der Verwirklichung der politischen Interessen nicht ersetzen. Es wird jedoch den politischen Institutionen ermöglichen, sich besser über die Interessen des Bürgers und der Bürgerin zu informieren... Um die Bürger besser zu informieren, muss die Information so vorgelegt werden, dass die Menschen verstehen und begreifen, was die politisch Handelnden vorhaben und was dieses letztendlich für den einzelnen bedeutet." Es gibt also Gründe genug, diesen aufwändigen, komplizierten und auch kostenintensiven interaktiven Kommunikationsprozess voranzutreiben. Und vielleicht muss dann auch dank der Bürgerbeteiligung das eine oder andere Gesetz nicht mehr nachgebessert werden.
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