An einem Sommertag im Jahre 1936 schrieb Reichspropagandaminister Joseph Goebbels in sein Tagebuch: "Der Führer ist ganz erregt, ich kann mich kaum halten. Ein richtiges Nervenbad. Das Publikum rast. Ein Kampf wie nie. Das Spiel als Massensuggestion." Grund der Echauffage war das Länderspiel Deutschland gegen Norwegen im Berliner Olympiastadion, zu dem neben zahlreicher Naziprominenz Hitler höchstselbst erschienen war. Norwegen gewann 2:0. Torschütze war ausgerechnet ein gewisser Isaaksen. Der Führer verließ wutentbrannt vorzeitig die Spielstätte. Reichstrainer Otto Nerz, während der Weimarer Zeit langjähriges SPD-Mitglied, später glühender Nazi-Anhänger, musste gehen. Sein Nachfolger Josef Herberger, ein Arbeiterkind aus Mannheim und Parteigenosse seit Mai 1933, stand schon in den Startlöchern. Er hatte das Ausscheiden seines Landes aus dem olympischen Fußballturnier folgerichtig als "politisches Malheur" bezeichnet. 18 Jahre später führte er die deutsche Mannschaft in Bern zur Weltmeisterschaft. "Wir sind wieder wer", hieß die Botschaft nach dem 3:2 über Ungarn. Vielleicht wäre die Frage "Wer sind wir?" angemessener gewesen.
In seinem materialintensiven, reich mit Quellen versehenen Band "Fußball unterm Hakenkreuz" untersucht Nils Havemann das Verhältnis der Deutschen zum Fußball, speziell während der Zeit des Nationalsozialismus. Dabei kommt er zu überzeugenden Schlussfolgerungen. Der 1900 gegründete Deutsche Fußballbund (DFB) habe schon frühzeitig eine ins Nationalistische tendierende Haltung gehabt. Der Autor zitiert in diesem Zusammenhang "Des Fußballspielers Gelöbnis" aus der Kaiserzeit: "O Vaterland, du heilig Land,/ Du hast ja all' uns zugesandt/ zu werden ein männlich' frei Geschlecht/ zu werben Freiheit dir und Recht; / zu wehren des Vaterlands Heiligthum/ Sei uns're Ehre, sei unser Ruhm!" Trotz dieser vaterländischen Phraseologien hatte der DFB stets auch ein sehr pragmatisches Verhältnis zu Macht und Geld. Vor allem in der Weimarer Republik ging es um Berufsfußball und wirtschaftliche Existenzformen des Sportes.
Als die Nazis 1933 die Macht ergriffen, waren zwar viele Funktionäre, voran der DFB-Vorsitzende Felix Linnemann, ein Kriminalist aus Berlin, schnell auf Kurs. Es gab zahlreiche "Märzgefallene", also neue NSDAP-Mitglieder nach dem Ermächtigungsgesetz vom März 1933. Aber im Vorfeld der Olympiade blieb der DFB ein organisatorisch weitgehend unabhängiger Bereich. Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten ließ ihm eine gewisse Autonomie. Wobei er sich in einem Geheimbericht an Alfred Rosenberg Anfang 1936 durchaus skeptisch äußerte: "Es ist häufig festzustellen, dass dort, wo ein ausgezeichneter Sachverstand für Leibeserziehung vorhanden ist, die nötige Substanz fehlt, und dort, wo politische Substanz da ist, häufig der nötige Sachverstand fehlt."
Obwohl von Tschammer und Osten NS-Organisationen jegliche Intervention in die Arbeit der fußballerischen Basis untersagte, macht Havemann in seiner Untersuchung deutlich, dass der Fußball ähnlich wie die gesamte Gesellschaft im Dritten Reich der "Verführung und Gewalt" des NS-Regimes ausgesetzt war. Das zeigt sich vor allem im Verhältnis gegenüber jüdischen Sportlern. Als der 1. FC Nürnberg 1932 mit 0:2 gegen Bayern München verlor, schrieb "Der Stürmer": "Der 1. Fußballclub geht am Juden zugrunde." Das bezog sich auf jüdischen Trainer Jenö Konrad aus Ungarn. In Streichers Hetzblatt wurde die Empfehlung gegeben: "Klub! Besinn Dich und wache auf. Gib Deinem Trainer eine Fahrkarte nach Jerusalem."
Havemanns Buch wartet mit vielen Details auf, beispielsweise damit, dass Werder Bremen, 1860 München und der VFB Stuttgart besonders aktive Nazivereine waren, was Bremen nicht davor schützte, seit 1937 unter Gestapokontrolle zu stehen. München 60 und Stuttgart sanierten dagegen als "alte Kämpfer" ihre desolaten Finanzen. Interessante Passagen bietet auch das Kapitel über die Länderspiele gegen England und die Schweiz, im Krieg unter anderem gegen Ungarn, Finnland, Spanien und Schweden sowie deren propagandistischen Begleiterscheinungen. Seit Ende 1942 gab es keine Spiele mehr gegen die Teams anderer Staaten, im Herbst 1944 endete auch der nationale Spielbetrieb.
Nach dem Krieg wurden zahlreiche Funktionäre als Mitläufer eingestuft. Konnten sie sich doch darauf berufen, nach 1936 organisatorisch kalt gestellt worden zu sein, als der gesamte Sport einschließlich seiner "bürgerlichen Relikte" unter Naziführung gestellt wurde. Die Lust, die eigene Geschichte aufzuarbeiten, war entsprechend gering. Statt gelber oder roter Karte verpasste man sich einen Persilschein. Wofür ein Beispiel stehen mag. Nationalspieler Otto Fritz Harder, Spitzname Tull nach einem Spieler bei Tottenham Hotspurs, wurde dreimal mit dem Hamburger SV deutscher Meister. Publikumsliebling war er nicht nur wegen seiner vielen Tore, sondern auch wegen seiner Vorliebe für Schnaps und Zigaretten. Im Krieg war er SS-Hauptscharführer und Wachmann in mehreren KZ's, darunter in Neuengamme bei Hamburg. 1947 verurteilten ihn die Briten deshalb zu 15 Jahren Haft, von denen er vier Jahre absitzen musste. Bei seiner Rückkehr ins Stadion am Rothenbaum 1951 wurde er von den Fußballfreunden frenetisch gefeiert. Als er 1956 starb, schmückte eine HSV-Fahne seinen Sarg, und Jugendspieler des Vereins hielten Ehrenwache am Grab. Schließlich waren "wir" seit zwei Jahren wieder wer. Da ist ein Buch wie das von Nils Havemann eine zwar bittere, aber gesunde Medizin.
Nils Havemann:
Fußball unterm Hakenkreuz.
Der DFB zwischen Sport, Politik und Kommerz.
Campus Verlag, Frankfurt/New York 2005; 473 Seiten, 19,90 Euro