Carl Figueras ist in seinem Element. In dichtem Nebel fegt er am Rande des Rasenplatzes hin und her und gibt seinen Spielern Anweisungen. Die Mannschaft, die er lotst, ist ein bunt gemischter Haufen aus Jungen und Mädchen, 16 bis 21 Jahre alt. Nur etwa die Hälfte sind gebürtige Filipinos, alle anderen mit ihren europäischen oder kanadischen Eltern eingewandert. Die gastgebende Gegenmannschaft besteht zwar ausschließlich aus Filipinos; trainiert wird sie aber von einem Australier.
Dabei könnte das Fußballturnier an kaum einem entlegeneren Ort stattfinden: Das kleine Dorf Sagada im Norden der philippinischen Insel Luzon liegt eine Tagesreise von der Hauptstadt Manila entfernt mitten in den Bergen. Organisiert hat den "1. Sagada-Cup" eben jener Australier, der sich vor mehr als zehn Jahren im Vorbeikommen in den Ort verliebte und seither kein Ziel engagierter verfolgt als das, die Jugendlichen von wucherndem Marihuana und billigem Rum fernzuhalten und stattdessen für Fußball zu interessieren.
Um am Ende der Welt überhaupt angemessene Gegner zu finden, musste er eine Weile suchen - so lange, bis er von dem 25-jährigen Carl hörte, der mit ebensolcher Leidenschaft den Fußball voranbrachte. Carl ist Filipino, hat als einer der wenigen schon auf seiner Heimatinsel Iloilo gekickt, in Manila Kunst studiert und lebt heute in Baguio, einem kulturellen und intellektuellen Zentrum des Inselstaats acht Autostunden entfernt.
Wer glaubt, dass die Menschen auf den stark amerikanisch geprägten Philippinen sich so gar nicht für Fußball interessieren, der sollte Carl nicht nur beobachten, sondern auch mit ihm reden: Binnen kürzester Zeit hält der diplomierte Künstler einen fundierten Vortrag über die zwar kleine, aber feine Fußballgeschichte: Nicht nur dass die Philippinen im Jahre 1913 - also noch unter spanischer Herrschaft - die erste inoffizielle asiatische Fußball-Meisterschaft ausgerichtet haben. Auch die Asian Football Confederation, der asiatische Fußballverband, wurde 1954 in Manila gegründet und nur wenige Wochen später in die FIFA aufgenommen. "Da wäre es doch gelacht", sagt Carl, "wenn wir dem Fußball hier nicht wieder zu neuer Geltung verhelfen könnten."
Der Weg dorthin ist zwar weit - bei der Qualifikation für die WM 2002 holte die Nationalmannschaft in sechs Spielen nur einen Punkt, dieses Mal trat sie gar nicht erst an. Dennoch, sagt Carl, sei der Ansteck-ungseffekt der erstmals in Asien ausgetragenen Weltmeisterschaft enorm gewesen: "Die Leute haben geguckt und gelesen, was sie kriegen konnten - und heute entstehen kleine Inseln, wo früher gar nichts war: hier und dort eine Mannschaft, manchmal sogar eine kleine regionale Mini-Liga. Der Anfang ist gemacht!"
Als der Weltfußballverband FIFA im Juni 1996 verkündete, die nächste WM werde in Japan und Südkorea ausgetragen, brach in der Fußball-Hochburg Europa längst nicht nur ungeteilte Begeisterung los: Eine Weltmeisterschaft in zwei Ländern, in denen kaum jemand kickt und die hierzulande beim Frühstück und beim Mittagessen übertragen wird? Die Entscheider in der FIFA wiederum hatten gezielt anders kalkuliert: Fußball sei immer auch "Entwicklungsarbeit", konstatierte FIFA-Generalsekretär Urs Linsi, "wir wollen solche Turniere nicht nur in den traditionellen Fußballnationen abhalten, sondern unseren Sport auch in die Teile der Welt bringen, in denen Fußball bislang noch keine dominierende Rolle spielt. Letztlich ist unser Ziel, dass der Fußball überall auf der Welt im Vordergrund steht." Und dann passierte bei der WM auch noch etwas, womit niemand gerechnet hatte und was der These von der nötigen Entwicklungshilfe Hohn sprach: Bis ins Achtelfinale schafften es die Gastgeber aus Japan; ihre Kollegen aus Korea bis ins Halbfinale.
Wer durch Asien reist und die Mär des fußballdistanzierten Kontinents verinnerlicht hat, wird aber ohnehin - und das war auch schon vor dem Push-Faktor WM 2002 so - überrascht sein, wie wenige Schritte man tun kann, ohne mit Fußball konfrontiert zu werden. Drittklässler im indonesischen Aceh kicken so begeistert wie kleine Nepalesen in den Höhen des Himalaya um die Wette. Wer Michael Ballack oder, für die älteren Semester, Karl-Heinz Rummenigge ist, weiß man auch in Vietnam, wo dazu noch die englische Premier League in jeder zweiten Teestube übertragen wird. Dass auch kleine Jungs in Guangzhou oder Chiang Mai in den Trikots eurer Idole rumlaufen, wird vom europäischen Ligafußball im Übrigen auch bereits seit Jahren forciert und mit viel Geld gefördert. Werbetouren oder auch -einkäufe von Clubs wie Manchester United und FC Evertons gehören zum guten Ton und auch die deutsche Nationalmannschaft hat sich kaum ganz zufällig schon bis nach Thailand und China vorgewagt.
Dabei spielen auch die Asiaten seit mehr als hundert Jahren Mannschaftsfußball; nicht so enthusiastisch wie hier und mit großen regionalen Unterschieden, aber immerhin: China trägt seit 1945 eine regelmäßige Meisterschaft aus, Japan seit 1965. Und die Südkoreaner, die im Jahr ihrer Unabhängigkeit 1948 bereits einen nationalen Fußballbund gründeten, nehmen seit 1986 an jeder Weltmeisterschaft teil. Auch in diesem Jahr haben sich fast schon traditionell Japaner und Südkoreaner qualifiziert, erstere trainiert von dem legendären brasilianischen Ex-Spieler Zico, letztere von dem zuletzt bei Borussia Mönchengladbach glücklosen Dick Advocaat, der nach Guus Hiddink bereits der zweite Niederländer in Seoul ist.
Und nicht einmal die These, der Lieblingssport der Europäer sei erst mit den Kolonisatoren in Asien eingefallen, ist bei genauerem Hinsehen über jeden Zweifel erhaben. Ganz im Gegenteil: Die chinesische Überlieferung weiß von einem Spiel, das vier Jahrtausende alt und dem Fußball enorm ähnlich ist: Die Hunnen in Nordchina haben demnach "den Ball mit dem Fuß stoßen" gelernt - Ts'uh kü hieß das Spiel, das sich der Legende nach bis wenige Jahrhundert vor Christus immer größerer Beliebtheit erfreute und mit einem mit Federn und Tierhaaren gestopften Lederball gespielt wurde.
Wenige Jahre nach Christus haben die Fernostler dann auch noch den luftgefüllten Ball erfunden und die ersten Regeln niedergeschrieben, die den heutigen erstaunlich ähneln: Jede Mannschaft hatte mindestens zehn Spieler, darunter einen Torwart und einen Spielführer. Erst 1.000 Jahre nach Christus verschwand das Spiel wieder aus der chinesischen Gesellschaft. Bis, insoweit stimmt die Geschichtsschreibung, der ungebetene Besuch aus Großbritannien eintraf. Und Seeleute, Soldaten und Missionare plötzlich im Hafen von Hongkong ihre Bälle von Bord holten und das Kicken begannen.
Jeannette Goddar arbeitet als freie Journalistin in Berlin.