Wer in Ruanda eine Gruppe Pubertierender trifft, kann ein gruseliges Experiment machen und einmal durchzählen. Nur zwei von zehn, sagt die Statistik, haben noch nie mit eigenen Augen einen Mord gesehen. Wer sie findet, trifft vielleicht auf die einzigen nicht traumatisierten Jugendlichen; vielleicht aber nicht einmal das. Der brutale Völkermord, der in den 90er-Jahren mehr als eine Million Menschen das Leben kostete, hat das afrikanische Land nicht nur komplett verwüstet, sondern auch abgrundtiefes Misstrauen geschürt: Wer ist Hutu, wer Tutsi, wer war am Morden beteiligt, wer nicht? Hat vielleicht der eigene Nachbar die Mutter oder den Vater umgelegt oder, auch das ist vorgekommen, der Vater die Mutter oder die Mutter den Vater?
Was macht man mit Jugendlichen, die ein Trauma mit sich tragen, über das sie reden sollten, aber nicht können? Gerd Scheuerpflug ist Psychologe und hat bis 2005 etwas ganz anderes versucht als mit ihnen zu reden: In der Hauptstadt Kigali hat er junge Hutu und Tutsi auf dem Sportplatz zusammengebracht und Fußball spielen lassen. Oberste Regel des gemeinsamen Spiels war eine, die "Spielregel Null" genannt wurde, weil ohne sie gar nichts ging: "Wir sind alle Ruander", lautete sie, "wir fragen nicht nach der ethnischen Herkunft."
Fußball als Friedensstifter? Gerd Scheuerpflug ist davon fest überzeugt, und wer hört, dass nicht nur Jugendliche in Kigali, sondern auch in den Grenzregionen zu Burundi, Uganda und Kongo in den Dörfern und sogar in Flüchtlingscamps mit Leidenschaft inzwischen über alle ethnischen Unterschiede hinweg-
kicken, mag ihm kaum widersprechen. "Fußball schafft Begegnung und Austausch, ohne dass es gleich ans Eingemachte geht", sagt der Psychologe, der seit einem Jahr wieder in Berlin lebt, "natürlich ist es toll, wenn Jugendliche über ihre Vergangenheit reden. Aber wenn sie das nicht können, muss man andere Wege finden." "Espérance" heißt der Verein in Kigali, den ein fuballverrückter Ruander schon Ende der 90er-Jahre gegründet hat und den Scheuerpflug als Mitarbeiter des Deutschen Entwicklungsdienstes (DED) drei Jahre lang unterstützt hat. Der DED, genau genommen der Zivile Friedensdienst, hat dabei das Geld und eine regelrechte Methodik mitgebracht. Im Grundsatz aber war der 30-jährige Ruander schon vor der Einreise des DED von selbst auf die Idee gekommen, sein Land zwischen zwei Toren zu versöhnen.
Eine Ausnahme? Mitnichten. Rund um die Welt wird in Straßenfußballprojekten außer um Geld und Ruhm auch um eine bessere Welt gekickt. In Ruanda kommen sich Hutu und Tutsi, in Tel Aviv Israelis und Palästinenser, in Belgrad Serben, Sinti und Roma und in Kabul junge Afghanen näher. Andere Clubs in Afrika, Lateinamerika, den USA oder England verknüpfen den Sport mit Aids-Aufklärung, Ausbildung oder dem Ausstieg aus dem Drogenkonsum. Gemeinsam ist den Projekten die Hoffnung darauf, den Sport als Vehikel für anderes zu nutzen, in der Regel dafür, dass Jugendliche den anderen so nehmen wie er ist und/oder ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Im kenianischen Nairobi, wo vor fast 20 Jahren eines der ersten Straßenfußball-Projekte entstand, haben die Gründer Sport mit einer Verbesserung der Lebensbedingungen in einem Slum verbunden. Die Jugendlichen spielen in einer "richtigen" Straßenfußballerliga. Zwischen den Spielen räumen sie den Müll aus den Gassen zwischen ihren Verschlägen - und auch dafür gibt es Punkte. 30.000 Jugendliche machen dort mit und eins der Teams hat sich längst in die erste Liga hochgekickt - der schlagende Gegenbeweis dafür, dass Fußball als Sozialprojekt nichts mit Leistung zu tun haben kann.
blickt, werden auch die Jungen und Mädchen aus Kigali und Nairobi da sein. 24 gemischte Teams treffen sich vom 1. bis zum 8. Juli in Berlin-Kreuzberg zur ersten Weltmeisterschaft im Straßenfußball. Das "Festival 06" wird auf Bolzplätzen und in einer eigens errichteten Container-Arena mit 2.000 Plätzen ausgetragen. Unterstützt werden die alternativen Spiele nicht zuletzt von Jürgen Klinsmann: "In allen Ländern spielen mehr Kids auf der Straße als im Verein", sagte er bei der Vorstellung des Projekts, "alles Nachwuchsfußballer, denen wir unter die Arme greifen wollen." Klinsmann ist nämlich nicht nur Bundestrainer, sondern auch Präsident der "Stiftung Jugendfußball", die, wie auch die Bundesregierung, das Festival unterstützt.
Initiator der Straßenfußball-WM ist ein Mann, der nicht nur leidenschaftlicher Fußballer und Sportsoziologe ist, sondern in dieser Kombination ein einzigartiges Netzwerk geschaffen hat: Jürgen Griesbeck, Geschäftsführer und Gründer des weltweiten Netzwerks "Streetfootballworld", dem Veranstalter des Festival 06. Der dokterte 1994 in Kolumbien an einer Dissertation über "Sport und Gewalt", als dort der Spieler Andres Escobar erschossen wurde, nachdem er bei der WM ein Eigentor geschossen hatte. Griesbeck legte seine Arbeit zur Seite und gründete das Straßenfußballerprojekt "Futbol por la paz", Fußball für den Frieden. Eine Idee, die in dem gewaltgeplagten Land einschlug wie eine Bombe. Nach einem Jahr kickten 500 Teams nach den Regeln, die Griesbeck mit Futbol por la Paz eingeführt hatte - und deren wichtigste waren und bis heute sind, dass Jungen und Mädchen gemeinsam spielen, das erste Tor ein Mädchen schießen muss und dass es keinen Schiedsrichter gibt. Dass Frauen beteiligt werden, ist dabei nicht nur politisch korrekt, sondern ein wesentliches Hilfsmittel: Es integriert die Mädchen und verschafft ihnen Respekt, zwingt die Jungs aber auch, sich zurückzunehmen und zu kommunizieren. Und längst nicht immer sind die Frauen die schlechteren Spielerinnen. "In Ruanda zählen sie zu den Besten", sagt Scheuerpflug, "und wissen Sie was: In Kigali war es leichter, den Jungs das beizubringen als in Berlin."
Dort lebt Gerd Scheuerpflug heute: Seit einem Jahr arbeitet er für das Festival 06 an der Auswahl eines der beiden deutschen Teams, das aus den Berliner Bezirken Kreuzberg und Friedrichshain stammt. Die Jungen und Mädchen, die Scheuerpflug dort trainiert, sind weder von Krieg noch von Favelas gezeichnet. Stattdessen sind die meisten ganz normale Kinder aus Einwandererfamilien - mit großer Distanz zum organisierten Fußball und großer Angst vor dem Weg in fremde Welten. Genau für die will der Straßenfußball in Kreuzberg ihnen die Augen öffnen; die Welt, aus der die Jugendlichen, stammen, ist nämlich meist winzig klein. "Ihre Eltern kommen aus der ganzen Welt", erzählt der Psychologe, "sie selber trauen sich häufig nicht einmal über die nächste große Straße. In Kreuzberg ist man als Jugendlicher vor der Haustür Chef - und woanders gar nichts." Außer vielleicht, er kickt zehn Straßen weiter gegen eine Truppe aus Kigali, der er sonst nie begegnet wäre.