Es gibt Menschen, für die ist ein Fahrkartenautomat ein unüberwindbares Hindernis. Die Beschriftung hilft ihnen nicht weiter, weil sie nicht lesen und schreiben können. Der Bremer Sonderschullehrer Sven Nickel erzählt von einer Frau, die aufhörte, mit dem Zug von Oldenburg nach Bremen zu fahren, als die mit Personal besetzten Schalter im Bahnhof abgeschafft wurden. Sie ist Analphabetin. Trotz Schulbesuchs und mitten in Deutschland. Auf rund vier Millionen schätzt der Bundesverband Alphabetisierung die Zahl der Menschen mit gravierenden Lese- und Schreibschwächen.
Einer von ihnen ist Bernd. Das schwierigste Wort für den 37-jährigen Berliner war "Milch". "Ich habe es immer mit ,sch' geschrieben. Ich höre den Unterschied nicht", sagt er. Niemand hatte ihn zu Hause jemals dazu animiert, ein Buch in die Hand zu nehmen. Auch die Lehrer schafften es nicht, ihm seine immer stärker werdenden Blockaden vor der Sprache zu nehmen. In Deutsch gab's regelmäßig ein "mangelhaft". Bernd konnte keinen Abschluss machen und sein Alltagsleben nur mit "Durchschummeln" bewältigen
Von "funkionalem Analphabetismus" spricht man in seinem Fall. Die Betroffenen verfügen trotz Schulbesuchs über so geringe Lese- und Schreibkenntnisse, dass sie den Anforderungen des Lebens in einem modernen Industriestaat nicht gewachsen sind. "Als Faustformel gilt, dass funktionale Analphabeten schlechter lesen und schreiben können als ein Kind in der dritten Klasse", sagt Peter Hubertus, Geschäftsführer des Bundesverbandes Alphabetisierung. Als "primärer Analphabet" gilt, wer keinerlei Lese- und Schreibkenntnisse erworben hat. Davon betroffen sind vor allem weniger entwickelte Länder. Die UNESCO geht davon aus, dass weltweit etwa 780 Millionen Menschen ein Leben ohne Schrift führen. Der größte Anteil von Analphabeten - rund 550 Millionen - lebt in Asien, 186 Millionen in Afrika und rund 24 Millionen in Lateinamerika.
Allerdings gibt es keine allgemein anerkannte Definition für Analphabetismus und dafür, was ausreichende Schreib- und Lesekenntnisse sind. Die zu vermutende Dunkelziffer macht die Sache nicht einfacher. Die UNESCO vermerkt zwar weltweit einen Rück-gang der Analphabetisierungsrate von 37 Prozent im Jahr 1970 auf 18 Prozent im Jahr 2005. In Deutschland jedoch werden keine Statistiken darüber geführt, wie sich die Zahl der Menschen mit Schreib- und Leseschwäche entwickelt hat. Peter Hubertus geht von einem "zunehmenden Problem" aus. Untersuchungen wie die PISA-Studien, die auf Schwachstellen im Bereich Bildung hinwiesen, böten Indizien für einen negativen Trend. "Ein ganz wichtiger Faktor ist die soziale Lage", sagt Hubertus. Arbeitslosigkeit führe nicht dazu, dass die Betroffenen ihre Zeit für das Lesen von Fachbüchern nutzen. Sie resignierten, und die vorhandene Bildung verkümmere.
Die Ursachen für Analphabetismus sind individuell sehr verschieden. Genannt werden Gründe wie Vernachlässigung von Seiten der Familie und Lehrer, Misserfolgserlebnisse in den ersten Schuljahren, Erschütterungen durch familiäre Erlebnisse, aber auch unerkannte Seh- und Hörstörungen. Die Suche nach der einen Ursache sei sinnlos, erklärt Sven Nickel, der am Fachbereich Erziehungs- und Bildungswissenschaften an der Universität Bremen beschäftigt ist und sechs Jahre Alphabetisierungarbeit mit Erwachsenen gemacht hat: "Es ist ein Zusammenspiel aus individuellen, familiären und schulischen Faktoren." Die Pädagogen seien gefordert, die individuellen Muster der Schreib- und Leseschwächen herauszufinden und die Schüler entsprechend zu fördern. Eine bestimmte Methode empfiehlt er nicht: "Es gibt verschiedene Wege zur Schrift." Nickel fordert Sprachförderungsangebote als festen Bestandteil des Bildungssystems und spezielle Ausbildungen für Lehrer, die mit Analphabetismus konfrontiert sind. Allerdings sei die Schule begrenzt in ihren Möglichkeiten. Der Umgang mit Sprache und Schrift in den Familien müsse gestärkt werden. "Der Faktor, ob zu Hause gelesen wird, ist ein bedeutender, wenn nicht gar der gewichtigste", sagt Nickel.
Bernd rattert ohne Stocken lateinische Pflanzennamen herunter. In seiner Ausbildung als Zierpflanzengärtner scheiterte er jedoch an der schriftlichen Zwischenprüfung. Danach habe er sich so durchgeschlagen. Er konnte ein wenig Lesen, aber musste die Worte erst mal in die einzelnen Buchstaben zerlegen, um sie erfassen zu können. "Ich hatte panische Angst vorm Schreiben", erinnert er sich. Vor anderthalb Jahren lief er am Büro des Vereins "Lesen und Schreiben" in Berlin-Neukölln vorbei. "Da hab ich mir gedacht, teste doch einfach mal, wie das so ist mit deinem Schreiben", sagt Bernd. Aus dem Testen wurden vier bis fünf Stunden Unterricht am Tag. Das Zusammentreffen mit Menschen in ähnlicher Lage ließ die Panik-attacken verschwinden.
Im Unterschied zu Volkshochschulen, die sich mit ihren Kursen eher an Erwerbstätige richten, bietet "Lesen und Schreiben" mehr und längeren Unterricht an. "Außerdem gibt es ehrenamtliche Helfer, die in Einzelstunden auf individuelle Schwächen eingehen", sagt Vereinsgründerin Marie-Luise Oswald. In die Kurse kämen etwas mehr Männer als Frauen, ein Drittel der Teilnehmer seien Migranten. Finanziert wird das Lernangebot durch Spenden, Fördermittel der EU und des Bezirks. Dazu kommen Arbeitslose, deren Kurse von den Jobcentern bezahlt werden. Doch das Geld reicht nicht. Immer wieder muss Oswald fürchten, ihre Lehrkräfte nicht bezahlen zu können. Dabei ist das Problem auch auf höchster politischer Ebene erkannt. Zwar ist Bildung Ländersache, doch das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert Modellprojekte. 2005 wurden Gelder von über 4 Millionen Euro bewilligt. Ein "Forschungs- und Entwicklungsprogramm zur Grundbildung Erwachsener" ist geplant. Es soll die Thematik umfassender untersuchen und Akteure der Alphabetisierungsarbeit vernetzen.
Das scheint nötig. "Wir müssen aufpassen, dass nicht ein Bildungsproletariat entsteht, das völlig abgekoppelt von der Gesellschaft ist", sagt Hubertus. Hubertus fordert einen Bewusstseinswandel: "Es darf nicht weiter das Vorurteil aufrechterhalten werden, dass, wer nicht lesen und schreiben kann, dumm ist." Bernd hat seine Intelligenz längst unter Beweis gestellt. "Jetzt bin ich hier Meisterschüler", sagt er. Gerade hat er die Prüfungen für den Hauptschulabschluss geschafft. Jetzt will er auf den Realschulabschluss zusteuern. "Ich möchte nochmal in die Arbeitswelt zurück", sagt er. Sein Traum: ein Job in einem Archiv. Am liebsten im Bereich Denkmalschutz. Die Angst vor den Wörtern ist für ihn vorbei.