Seit seinem Erscheinen ist "1984" zu einem Furcht erregenden Symbol des schrecklichen Überwachungsstaates geworden. Nicht zuletzt die symbolische Kraft des Romans hat dazu beigetragen, Behörden in ihrem Bestreben, die Bürger zu überwachen, in ihre Schranken zu weisen. Kurzum: Die Privatsphäre war in den westlichen Demokratien ein hoch geschätzter Wert. Bis zum 11. September 2001.
Inzwischen scheinen diese Werte nur mehr eine
nostalgische Reminiszenz an die Vergangenheit zu sein. Der Krieg gegen den Terror, so das Argument des größten Teils unserer politischen Führung, bringe die Notwendigkeit mit sich, "manche" Einschränkungen hinsichtlich der Privatsphäre hinzunehmen. Zu hören war es erst jüngst wieder, nachdem die britischen Geheimdienste eigenen Angaben zufolge einen Terroranschlag auf mehrere Flugzeuge vereitelt haben.
In Wirklichkeit verbirgt sich hinter dieser eher harmlos klingenden Aussage ein weltweiter Trend, der zu schwerwiegenden Verstößen gegen grundlegende Menschenrechte und nicht zuletzt auch gegen das Recht auf Privatsphäre führt. Das Recht auf eine Privat- beziehungsweise Intimsphäre wird von den Regierungen vieler Länder in Frage gestellt - auch in den Mitgliedstaaten der EU.
Während des Kalten Krieges prägten diejenigen, die nicht zur Verteidigung der Freiheit bereit waren, das eingängige Schlagwort: "Lieber rot als tot". Auch wenn es diesbezüglich noch keine offizielle Verlautbarung gibt, könnte dieses Schlagwort auf die Gegenwart übertragen lauten: "Lieber ohne Privatsphäre als tot".
Aber müssen wir uns hier wirklich zwischen Pest und Cholera entscheiden? Oder nutzen die Polit-Profis unsere tiefe Furcht vor Tod und Zerstörung, um ihre eigene Machtsphäre zu vergrößern? Wir dürfen nicht vergessen, dass der politische Stand in dieser Angelegenheit eine Symbiose mit der mächtigen Medienindustrie eingegangen ist, die aus finanziellen Gründen den Terrorismus und andere Formen der Gewalt in einem Maße ausschlachtet, das objektiv nicht zu rechtfertigen ist. Im Ergebnis wird den Menschen das Gefühl vermittelt, dass Terroristen ein tödliches Risiko im täglichen Leben darstellen, obwohl die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Terroranschlags zu werden, selbst in sehr gefährdeten Ländern wie Großbritannien und den USA verschwindend gering ist. Gleichzeitig fahren diese verängstigten Menschen sorglos mit dem Auto herum, telefonieren mit ihrem Handy während der Fahrt, schlafen hinter dem Steuer ein oder fahren betrunken auf der Autobahn und setzen sich damit einem tödlichen Risiko aus, das wesentlich größer ist als bei einem Terroranschlag ums Leben zu kommen. Die eigentlichen großen Gefahren für unser Leben lauern hauptsächlich im Straßenverkehr, in Krankheiten, im Alkohol- und Drogenmissbrauch und in schlechten Ernährungsgewohnheiten.
Damit soll das Problem des Terrorismus nicht verharmlost werden. Natürlich müssen wir diesem hässlichen Phänomen entschieden entgegentreten. Der Terrorismus ist jedoch kein Problem, das die gesamte politische Agenda beherrschen sollte. Es ist kein Problem, das alle Bereiche der Gesellschaft bestimmen darf. Und es ist definitiv kein Problem, das Grund für die schrittweise Abschaffung von Menschenrechten, Demokratie und Freiheit bietet - Werten, die erst nach jahrhundertelangem Kampf errungen wurden.
Das Recht auf Privatsphäre ist seit langem in Artikel 12 der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" der Vereinten Nationen verankert. Dieser Artikel wurde aus gutem Grund in die Erklärung aufgenommen. Der Grund ist nach wie vor gegeben. Wir vergessen gern, dass es Terrorismus und andere schreckliche Verbrechen auch schon in der Zeit gab, als die Erklärung verfasst wurde. Es gab sie bereits im alten Rom.
Wir wollen ein gedankliches Experiment wagen: Nehmen wir einmal an, man würde die vollkommene Überwachungsgesellschaft in der Europäischen Union aufbauen. Wäre dies das Ende des Terrorismus? Wohl kaum.
Terroristen sind in der Regel nicht dumm. Sie würden in Erfahrung bringen, welche Risiken elektronische Spuren für sie darstellen, und sich entsprechend verhalten. Sie würden sich folglich von digitaler Kommunikation und elektronischen Gerätschaften tunlichst fernhalten und lieber auf althergebrachte Weise miteinander kommunizieren - etwa wie Osama bin Laden, der es seit fünf langen Jahren schafft, nicht gefangen genommen oder getötet zu werden, obgleich er die meistgesuchte Person aller Zeiten ist - gesucht von der größten Weltmacht unserer Tage. Das hat Gründe: Offenbar hinterlässt er keine Spuren, weil er beispielsweise Brieftauben und Esel als Kuriere für die Übermittlung von Nachrichten einsetzt.
Dieses Argument wird durch die Tatsache gestützt, dass die Londoner Bombenleger von 2005 nicht Al-Qaida oder einem vergleichbaren Terrornetz angehörten. Es handelte sich um ganz ,normale' Bürger, die in Großbritannien zur Welt gekommen waren und die auf eigene Faust handelten. Sie waren eng miteinander befreundet, was die nicht-digitale Kommunikation wesentlich erleichterte. Und sie bildeten das, was man als von selbst entstehende und sich selbst kontrollierende Terrorzelle bezeichnet. Diese Art von Terrorismus entstünde als Folge der Schaffung einer Überwachungsgesellschaft. Und wir, die friedlichen Normalbürger, wären die großen Verlierer: Wir würden unserer Privatsphäre und Freiheit beraubt und hätten nach wie vor unter der Geißel des Terrorismus zu leiden. Die Befürworter eines großen und mächtigen Staates, der auf Kosten des Einzelnen handelt, wären hingegen die Gewinner.
Das Machtgleichgewicht zwischen Staat und Bürgern war seit jeher Gegenstand politischer und philosophischer Überlegungen. Die Bedrohung durch den Terrorismus wird nun von den Befürwortern des starken Staates genutzt, um dieses Gleichgewicht erkennbar zu verändern. Ich behaupte, dabei geht es auch nicht nur um die Sicherheit der Bevölkerung.
Natürlich ist in einer zivilisierten Gesellschaft ein gewisses Maß an Überwachung vonnöten. Auf einer Skala zwischen null Überwachung (= Anarchie) und totaler Überwachung (= "1984") haben die Demokratien sich stets etwa in der Mitte platziert. Mittlerweile bewegen wir uns jedoch kontinuierlich auf den Endpunkt "1984" zu. Sicherlich sind wir von diesem Punkt noch weit entfernt, aber wenn wir einen Schritt nach dem anderen in diese Richtung gehen - stets von hehren Zielen geleitet, versteht sich -, werden wir früher oder später dort landen.
Wir dürfen nicht vergessen, dass die digitale Revolution gerade erst begonnen hat, und dies bedeutet, dass die technischen Mittel für die detaillierte Überwachung jedes Jahr zahlreicher und immer raffinierter werden. Das wird noch viele Jahre lang so weitergehen. Früher oder später werden wir die Bewegung auf der Skala stoppen und der zunehmenden Überwachung Einhalt gebieten müssen - auch wenn das bedeutet, dass uns einige Verbrecher durch die Lappen gehen, die sonst erkannt und gefasst werden könnten. Wenn wir die Aufwärtsbewegung auf der Skala nicht stoppen, wird uns das Schicksal eines Tages in der Gesellschaft von "1984" aufwachen lassen. Aber glaubt jemand wirklich ernsthaft daran, dass die Innen- und Justizminister von morgen aufstehen und "das Ende der Überwachung" verkünden, wenn sie nicht von den Bürgern gezwungen werden?
Die aktuelle Situation erfordert den Aufstand der Bürger gegen einen politischen Stand, der seinen eigenen Herrschaftsbereich auf unsere Kosten vergrößern will. Sie erfordert selbstbewusste Bürger, die der Schnüffelei eine klare Absage erteilen. Sie erfordert ein Bewusstsein für den Wert der Privatsphäre, bevor es zu spät ist. Denn Privatsphäre ist wie Sauerstoff: Erst wenn keiner mehr da ist, weiß man ihn zu schätzen.
Man sollte sich einmal die Worte des britisch-österreichischen Philosophen Karl Popper (1902-1994) ins Gedächtnis rufen: "Wir müssen für die Freiheit planen und nicht nur für die Sicherheit, wenn auch vielleicht aus keinem anderen Grund als dem, dass nur die Freiheit die Sicherheit sichern kann." Und der US-Chefankläger von Nürnberg, Robert H. Jackson (1892-1954) bemerkte einst: "Es ist nicht Aufgabe des Staates, die Bürger vor Irrtümern zu bewahren. Es ist die Aufgabe der Bürger, den Staat vor Irrtümern zu bewahren."
Zum Schluss sei auch an die Worte des früheren Stasi-Chefs Erich Mielke erinnert, die uns sehr zu Denken geben sollten: "Um sicher zu sein, muss man alles wissen."
Pär Ström arbeitet als Diplom-Ingenieur und Journalist in Stockholm. Er ist Autor mehrerer Bücher zu den Themen digitale Revolution und Datenschutz. Das Buch "Die Überwachungsmafia - das gute Geschäft mit unseren Daten" (2005) erschien im Juli in Deutschland auch als Taschenbuch.