Wäre im Jahr 1933 bereits Meinungsforschung nach heutigen Standards betrieben worden, dann hätten die Demoskopen nach den Reichstagswahlen vielleicht folgende Fragen gestellt: "Haben Sie ,Mein Kampf' von Adolf Hitler vor der Wahl gelesen? Hat dies Ihre Stimmabgabe zugunsten oder zu ungunsten der NSDAP beeinflusst?" Und in den folgenden Jahren wären eventuell jährlich Umfragen gestartet worden, was die Deutschen von der "Nazi-Bibel" halten. Wenn das Wörtchen "wenn" nicht wäre. So aber entstand der Mythos, Hitlers Pamphlet sei vor 1945 zwar massenhaft verbreitet, aber von niemandem gelesen worden. Diese Einschätzung zählt zu den "hartnäckigsten Verallgemeinerungen und Fehleinschätzungen zur Geschichte des Nationalsozialismus", urteilt der österreichische Historiker Othmar Plöckinger in seiner jetzt erschienen Veröffentlichung des Instituts für Zeitgeschichte über Hitlers Autobiografie.
Plöckingers umfangreiches Buch ist das Ergebnis gründlichen historischen Handwerks und für die Forschung ganz sicher eine Bereicherung. Neben den Kapiteln, die sich mit der Entstehung der ursprünglich zwei Bände auseinandersetzen, hat Plöckinger die Publikationsgeschichte aufgearbeitet bis hin zur Wahrnehmung und Beurteilung des "Kampfes" in der Öffentlichkeit, den Parteien, Gewerkschaften, der Wirtschaft, den Kirchen und der jüdischen Publizistik. Auch die Reaktionen in den USA, Großbritannien, Frankreich, Österreich, der Sowjetunion und den im Exil lebenden Deutschen werden dargestellt.
Plöckinger zeigt, dass "Mein Kampf" bereits vor 1933 bei den Deutschen auf Interesse stieß und das nicht nur unter ausgewiesenen Nazis. So stiegen die Verkaufszahlen ab 1930 rapide an, und zwar noch vor den für die NSDAP so erfolgreichen Wahlen vom 14. September. Bis zu den Reichstagswahlen vom Januar 1933 erreichten alle bis dahin verkauften Auflagen eine Gesamtstärke von rund 241.000 Stück. Im Jahr 1933 und somit noch vor der staatlich gelenkten, massenhaften Verbreitung, ging der "Kampf" eine Million mal über die Ladentische. Auch die Ausleihzahlen der Bibliotheken sprechen dafür, dass die Schrift gelesen wurde und nicht nur in den Bücherschränken verstaubte.
Auch wenn es Plöckinger in seinem Buch nicht thematisiert, er könnte einer alten Debatte neu beleben: die um die Herausgabe einer wissenschaftlichen Edition von "Mein Kampf". Der Historiker Hans Mommsen forderte diese in der "Süddeutschen Zeitung" vom 25. August als "längst überfällig" ein: "Erst eine umfassende textkritische Aufschlüsselung der politisch-historischen Bezüge seiner Darlegung in ,Mein Kampf' vermag den Mythos der ideologischen Originalität und intellektuellen Qualität von Hitlers Suada auszuräumen."
Angesprochen ist der Freistaat Bayern, der von den Alliierten die Verlags- und Urheberrechte übertragen bekam. Bis 2015 kann die bayerische Staatsregierung von diesem Recht Gebrauch machen, denn die Urheberrechte laufen 70 Jahre nach dem Tode eines Verfassers aus. Plöckingers Untersuchung hat gezeigt, dass die weit verbreitete Einschätzung, Hitler wäre nie an die Macht gelangt, wenn die Deutschen das "unsägliche Werk" gelesen hätten, ebenfalls ein Mythos ist. Schon aus diesem Grund wäre eine wissenschaftliche Ausgabe wünschenswert. In Israel übrigens wurde eine solche Edition auf hebräisch bereits 1995 realisiert.
Othmar Plöckinger: Geschichte eines Buches: Adolf Hitlers "Mein Kampf" 1922 - 1945 Oldenbourg Verlag, München 2006; 632 S., 49,80 Euro.