Genialer Taktiker, überzeugter Vertreter des Regimes, distanzloser Opportunist, vaterlandsloser Verräter, Vertreter des anderen Deutschland, draufgängerischer Geheimdiplomat, Verwandlungskünstler, faszinierender Doppelspieler, verschla- gener homo ludens und bürokratischer Offizier: Beschreibungen eines Mannes, der selber kurz vor seiner Hinrichtung 1945 im Konzentrationslager Flossenbürg über sich sagt "Ich war kein Vaterlandsverräter. Ich habe als Deutscher meine Pflicht getan."
30 Jahre nach der Biografie "Canaris - Patriot im Zwielicht" von Heinz Höhne ist mit dem Buch des Kölner Journalisten und Autors von Büchern zur Stasi- und BND-Geschichte Michael Müller eine weitere Biografie über Hitlers Abwehrchef Wilhelm Canaris erschienen. Mit neu zugänglichem Archivmaterial beschreibt Müller umfangreich und detailgenau den politischen Werdegang und die beruflichen Stationen des Admirals Wilhelm Canaris.
Das Buch beginnt mit einer eindrucksvollen Schilderung der Situation nach dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944, Canaris Festnahme und seiner letzten Tage in Flossenbürg bis zur Hinrichtung mit Dietrich Bonhoeffer. Müllers Ankündigung in der Einleitung, sich einer der "drei Götzen der Historiographie" - nämlich der Chronologie - zu verpflichten, wird in den fünf folgenden und zum Teil etwas langatmigen Kapiteln mit Details über Canaris Aufgaben innerhalb der Marineleitung und die Beschreibung komplexer Abläufe innerhalb der Abwehrbehörde stringent verfolgt, ohne jedoch die umstrittene Rolle des Seeoffiziers und seine Bedeutung für den deutschen Widerstand neu zu bewerten. Da Canaris kaum persönliche und private Zeugnisse hinterlassen hat, Aussagen Dritter über ihn widersprüchlich bleiben und zum großen Teil aus verklärenden Nachkriegserinnerungen bestehen, bleibt eine genaue Darstellung seines Charakters aus.
Einen guten Einblick ermöglicht das Buch in die Haltungen und Denkweisen eines Teils der deutschen Elite jener Zeit, die als begeisterte Soldaten des Ersten Weltkriegs und überzeugte Antikommunisten zu Gegnern der Weimarer Republik wurden. Wie viele seiner Alters- und Standesgenossen war Canaris lange Zeit davon überzeugt, den Irrsinn des Nationalsozialismus beherrschen zu können, was Ian Kershaw mit einem "atemberaubenden Unverständnis für politische Realitäten" umschreibt.
Canaris versuchte nach außen als Vertreter des Regimes aufzutreten und gleichzeitig innerhalb seiner Abwehr kritische Offiziere und Mitarbeiter zu versammeln - zum Beispiel seinen engen Verbündeten Hans von Dohnanyi oder eine Reihe von jüdischen Agenten, deren Beschäftigung 1942 schließlich zum großen Streit um geheimdienstliche Kompetenzen mit Reinhard Heydrich, dem Leiter des Reichssicherheitshauptamtes, wurde. Als Sieger aus diesem Streit ging eindeutig Heydrich hervor, einer der gefährlichsten Gegenspieler von Canaris, der allerdings lange Zeit zu Canaris Bekanntenkreis gehörte. Das Attentat auf Heydrich verhinderte jedoch eine Ausübung dessen neu gewonnener Überlegenheit.
Doch die innenpolitische Situation blieb gefährlich für Canaris, vor allem nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944: Canaris war als Abwehrchef zunächst durch seine Bekanntheit und Anerkennung geschützt, musste jedoch die einflussreichen Positionen innerhalb der Abwehr mit regimetreuen Mitarbeitern ersetzen. Es scheint, als könnten seine legendären geheimdienstliche Fähigkeiten ihn immer wieder vor der Verurteilung durch die Nationalsozialisten bewahren. Erst ein zufälliger Fund von Canaris Privattagebüchern in einem Schrank in der Abwehrzentrale in Zossen wird ihm letztendlich zum Verhängnis.
Trotz der Quellenfülle bleibt der "draufgängerische Geheimdiplomat" Wilhelm Canaris am Ende des Buches ohne Bewertung und die Mythen um seine Person werden nicht entschlüsselt.
Michael Müller: Canaris. Hitlers Abwehrchef. Propyläen Verlag, Berlin 2006; 576 S., 24,90 Euro.