Chinas Gegenwartskunst findet im Westen erst seit kurzem größere Beachtung. Nach der wirtschaftlichen Liberalisierung sind mittlerweile Maler, Bildhauer, Fotografen und Filmemacher in der Öffentlichkeit präsent, reisen vermehrt ins Ausland, stellen sich und ihre Arbeit dar.
Der frühere Schweizer Botschafter in China, Uli Sigg, besitzt heute die weltweit größte Sammlung zeitgenössischer Kunst aus dem Reich der Mitte. Er hat zeitgenössische chinesische bereits Kunst gesammelt, als sich im Reich der Mitte trotz Zensur und Menschenrechtsverletzungen nach Maos Tod 1976 eine vielfältige und unabhängige Kunstszene entwickelte, die lange allerdings nur im Verborgenen agierte. Die Sammlung des 60-jährigen Schweizers umfasst rund 1.500 Werke von 200 Künstlern. Eine repräsentative Auswahl dieser Schätze (von 1979 bis 2005) ist jetzt in der Hamburger Kunsthalle zu sehen. Darunter Arbeiten, die in der chinesischen Kunstszene den Status von Ikonen besitzen. Deshalb wird man erstmals den gesamten Kubus der Hamburger Galerie der Gegenwart für eine einzige Ausstellung räumen: "Mahjong", so der Titel, spielt auf das chinesische Brettspiel an.
Die meisten Arbeiten setzen sich mit der Kulturrevolution auseinander, mit dem Aufbruch zu einer neuen Gesellschaft. Allerdings hätten sich mit dem Massaker am Tiananmen-Platz im Juni 1989, resümiert Sigg, "die Künstler eher von den großen Themen zurückgezogen, sich ihrer eigenen Identität und dem Alltag zugewandt". Als im Verlauf der 90er-Jahre das Konsumdenken mit Macht über China kam, hätten viele den neuen Reichtum und das Geld in ihren Arbeiten thematisiert.
Mittlerweile gilt der heutige Vizepräsident des eidgenössischen Ringier-Medienkonzerns als China-Experte schlechthin. In den 70er-Jahren gründete Sigg das erste Joint Venture eines westlichen Unternehmens mit China. Der damals 33-jährige Schweizer Jurist arbeitete für einen Fahrstuhlhersteller. Später, in den 90er-Jahren, war er als Schweizer Botschafter von China, Nordkorea und der Mongolei in Peking (Bejing) tätig: "Ich wollte noch eine dritte Sichtweise durch die zeitgenössische Kunst gewinnen. Für mich war es sehr wichtig, die Künstler selbst aufzusuchen und ihre Lebensumstände kennen zu lernen."
An die 1.000 chinesische Künstler habe er aufgesucht, erzählt Sigg rückblickend. Anfangs habe er die Kunstwerke unter abenteuerlichen Umständen zusammengetragen. Immer hatte er einen Dolmetscher und einen Aufpasser bei sich. Außerdem war es Künstlern, die sich nicht an das Diktat des Sozialistischen Realismus hielten, verboten, ihre Arbeiten öffentlich auszustellen. Das habe sich Ende der 90er-Jahre geändert, erinnert sich Sigg: "Zuerst führte mich ein Künstler zum anderen. Irgendwann wendete sich das Blatt und die Künstler begannen mich aufzusuchen. Ich habe dann auch einen Kunstpreis ausgesetzt, den ersten und einzigen für zeitgenössische Kunst, damit ich das Material überhaupt zu Gesicht bekam. Mit dem Internet hat sich dieses Problem verflüchtigt." Bis vor kurzem hätte es noch nicht einmal Galerien und chinesische Sammler gegeben, berichtet Sigg. Die Regierung habe reserviert bis abweisend auf die sich entwickelnde Kunstszene reagiert.
Heute leben die Künstler vor allem in den großen Städten, sind gut ausgebildet und besitzen handwerklich längst das gleiche Niveau wie im Westen. Da überrascht es beim Gang durch die Ausstellung wenig, dass sich die chinesischen Künstler in virtuoser Weise der im Westen entwickelten Medien, Techniken und Ausdrucksmittel bedienen - ohne darauf zu verzichten, die eigenen Traditionen zu thematisieren und westliche Kunst zu parodieren. Kunsthallen-Direktor Hubertus Gaßner spricht von einer "Befreiungseuphorie" unter den chinesischen Künstlern.
Die Ausstellung beschäftigt sich in einem der Schwerpunkte mit den jahrtausendealten chinesischen Traditionen. Für die einen Künstler bedeutet das eine schwere Last, für die anderen einen Fundus, den es zu heben gilt. Manche Künstler schütteln diese Vergangenheit in ihren Werken ab, andere bekämpfen sie. Das gilt auch für den 1957 in Peking geborenen Ai Weiwei, der auf eine 2.000 Jahre alte weiße Urne der Han-Dynastie mit roter Farbe ein Coca-Cola-Logo gesetzt hat. "Whitewash", eine weitere Arbeit Ai Weiweis, besteht aus 132 rund 5.000-jährigen Vasen. Ein Viertel davon hat der Künstler mit weißer Industriefarbe bemalt - oder bekleckert, je nachdem wie man es sehen will. Sind diese Vasen nun zerstört oder ist ein neues Kunstwerk entstanden? Auf jeden Fall gibt es den Zusammenprall von Alt und Neu, der hier thematisiert wird.
Um den Besuchern die Orientierung zu erleichtern, wurde die Ausstellung in thematische Blöcke gegliedert: Am Anfang steht eine Auswahl von Mao-Propagandawerken, die den Ausgangspunkt der chinesischen Kunst am Ende der 70er-Jahre veranschaulichen soll. Einen anderen Schwerpunkt bilden Arbeiten vom Ende der 80er-Jahre, kurz vor dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens.
Dicht an dicht reihen sich die fast 300 Exponate aneinander. Zum Beispiel die Fotografien des 1972 in Peking geborenen Sun Yuan, der menschliche Leichen zu bizarren Stillleben arrangiert. Oder Yue Min Jun, der die kulturrevolutionären Prinzipien des Kollektivs und der Gleichheit beim Wort nimmt und sich in Bildern und Skulpturen hundertfach geklont hat und dabei mit seinen weißen Zähnen und seinem breiten Lachen gefährlich gute Miene zum bösen Spiel macht.
Vor allem das Thema Gewalt werde in der Ausstellung sehr breit dargestellt, sagt Sigg. "Wir vergessen oft, dass China ein Entwicklungsland mit einer vergleichsweise brutalen Gesellschaft ist. Der Einzelne kämpft hier mit harten Bandagen. Das finden wir in vielen Arbeiten wieder."
So hat sich die Hamburger Kunsthalle entschlossen, zwei besonders schockierende Arbeiten aus der Sammlung nicht zu zeigen. Zum einen die "Zivilisationssäule" von Sun Yuan und Peng Yu, die aus mehreren huntert Kilo menschlichen Fetts besteht. Das "Rohmaterial" sammelte das Künstlerduo in Schönheitskliniken rund um Peking. In Bern, wo die Ausstellung 2005 gezeigt wurde, gab es heftige Proteste gegen dieses Exponat. Es handele sich um Werke - so erklärt Uli Sigg die Abneigung gegen diese Kunst -, die bestimmte Tabus unserer Gesellschaft thematisieren. Arbeiten, die sich mit dem Tod, dem Umgang mit menschlichem Körper, dem Tier befassen, könnte man bei uns "so ungefiltert nicht zeigen". Auch eine andere umstrittene Installation wird in Hamburg nicht zu sehen sein. Xiao Yu hat in "Ruan" dem Körper eines Vogels den Kopf eines menschlichen Fötus aufgesetzt. Die Figur schwimmt ähnlich wie ein wissenschaftliches Präparat in einem mit Flüssigkeit gefüllten Glasbehälter.
Die Sammelleidenschaft von Uli Sigg hat unterdessen keinen Einbruch erlitten. Heute fahre er sechs bis acht Mal im Jahr nach China, um weitere Kunstwerke zu kaufen. Die Preise seien enorm gestiegen, so Sigg. Viele bedeutende Arbeiten chinesischer Künstler hätten westliche Geschäftsleute und Sammler aufgekauft. Auch wenn die chinesische Regierung dies wollte, so könnte das Land keine vergleichbare Sammlung der Gegenwartskunst mehr aufbauen. Dass sich die Kunstproduktion fast einer ganzen Generation in der Hand von Sammlern befände, damit hat Uli Sigg allerdings kein Problem.
Ob sich für uns Europäer die chinesische Kunst, ihre subtilen Zeichen und versteckten Anspielungen überhaupt verstehen lassen, das beantwortet er mit dem Hinweis auf zwei unterschiedliche Kunstrichtungen: "Die eine, ich würde sie Weltkunst nennen, ist Jedermann ohne besonderes Kontextwissen über China zugänglich.
Die andere setzt Kenntnisse voraus. Wenn Sie beispielsweise eine Arbeit sehen, die sich mit der Einkindfamilien-Politik auseinandersetzt wie bei Yang Zhenzhong, und wenn Sie nicht wissen, dass es so etwas gibt, dann werden Sie diese Arbeit nicht richtig verstehen. Sie mögen sie zwar lieben, nur dann aus den falschen Gründen. Aber das macht ja vielleicht auch nichts."
Der Ausstellungskatalog "Mahjong. Chinesische Gegenwartskunst aus der Sammlung Sigg" ist im Hatje Cantz Verlag erschienen und kostet 49,80 Euro.