Rainer Barzel war ein leidenschaftlicher Parlamentarier. 30 Jahre lang wirkte er im Deutschen Bundestag - als Abgeordneter, Fraktionsvorsitzender, Oppositionsführer, Ausschussvorsitzender. 1983 schließlich wurde er zum Präsidenten des 10. Deutschen Bundestages gewählt.
"Demokratie" - so hat Rainer Barzel im Rückblick gesagt - "ist die schönste, aber auch die schwierigste Sache des Lebens." Dieser Satz verblüfft, weil er die Politik mit dem Leben zu verwechseln scheint. Aber sein politisches Lebenswerk bestätigt genau diesen Satz: Rainer Barzel war Politiker mit Leib und Seele; in bedeutenden Ämtern hat er die politische Kultur in unserem Land über Jahrzehnte maßgeblich mitgestaltet und mitgeprägt. Er fand Erfüllung im aufreibenden politischen Engagement, war aber mehr als andere auch von Erfahrungen des Scheiterns betroffen und gezeichnet. Neben den unvermeidlichen beruflichen Höhen und Tiefen hat er mehrfach auch private Tragödien ertragen müssen.
Im Jahre 1957 zog Rainer Barzel mit Direktmandat des Wahlkreises Paderborn-Wiedenbrück in den 3. Deutschen Bundestag ein. Er wollte nun "selbst gestalten", schrieb er später. Er habe das Mandat auch angestrebt, um "nicht mehr weisungsgebunden und abhängig" zu arbeiten. Er wollte öffentlich "geradestehen" für das eigene Tun - öffentlich "geradestehen", so war er.
"Demokratie ist Wettbewerb, auch der Meinungen und der Personen. Keiner ist im Besitz der alleinigen Wahrheit", lautete sein politisches Credo. Rainer Barzel besaß die Fähigkeit, unterschiedliche Positionen zusammenzuführen und andere zu überzeugen - mit klugen Analysen, guten Argumenten, brillanter Rhetorik. Schon in seiner ersten Legislaturperiode wurde er in den Fraktionsvorstand gewählt, ehe er 1964 Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion wurde.
Zwischen 1966 und 1969 waren Rainer Barzel und sein Pendant in der SPD-Fraktion, Helmut Schmidt, die parlamentarischen Bürgen der großen Koalition. Die Fraktionsvorsitzenden Barzel und Schmidt arbeiteten eng zusammen - kollegial, vertrauensvoll, fair und effektiv. Sie konnten sich aufeinander verlassen. Diese Erfahrung legte den Grundstein einer lebenslangen Freundschaft, die alle politischen Differenzen und parlamentarischen Auseinandersetzungen überdauerte. Dass Helmut Schmidt heute das Lebenswerk von Rainer Barzel würdigt, ist Ausdruck der Wertschätzung, die beide immer wieder auch öffentlich füreinander bekundet haben. Ich bin Ihnen, sehr geehrter Herr Bundeskanzler Schmidt, für diese große menschliche Geste dankbar, die zugleich auch eine große parlamentarische Geste ist. Sie ist ein bemerkenswerter Ausdruck und Beleg für die politische Kultur in Deutschland, die Sie beide ganz wesentlich mitgeprägt haben.
Das zentrale politische Ziel Rainer Barzels war die Wiederherstellung der deutschen Einheit. Deutschlandpolitik war ihm, wie er immer wieder betonte, ein "Herzensanliegen". Die schlimmen Folgen der Teilung, das Leid der vertriebenen und voneinander getrennten Menschen suchte er, der gebürtige Ostpreuße, zu lindern. Als Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen im fünften und letzten Kabinett Konrad Adenauers gelang es ihm als Erstem, politische Gefangene aus DDR-Gefängnissen herauszuholen, im Klartext: freizukaufen.
In der Debatte um die Ostverträge Anfang der 70er-Jahre signalisierte Oppositionsführer Barzel Kompromissbereitschaft. Sein berühmtes "So nicht!" bedeutete keine prinzipielle Absage an die Ostverträge, sondern zielte auf Nachbesserungen, um die befürchtete endgültige Spaltung Deutschlands durch Anerkennung einer DDR-Staatsangehörigkeit zu vermeiden. Er war weder dazu bereit, sich mit den sogenannten "Realitäten der Teilung" abzufinden, noch dazu, die Ostpolitik Willy Brandts am Widerstand im eigenen Lager scheitern zu lassen. Rainer Barzel musste für seine deutschlandpolitischen Überzeugungen viel Kritik hinnehmen, vor allem aus den eigenen Reihen. Doch die von ihm geforderten Klarstellungen am Vertragswerk wurden in Form einer gemeinsamen Entschließung des Bundestages auf den Weg gebracht. Das "Tor zur deutschen Einheit" blieb offen. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen von 1989/90 wissen wir die politische Weitsicht Rainer Barzels zu schätzen. Auch als Oppositionsführer ist er in vorbildlicher Weise seiner politischen Verantwortung für das ganze deutsche Volk gerecht geworden.
Niemand von denen, die nie Bundeskanzler wurden, war dem Amt so nah wie er. Die Umstände, unter denen seine Kandidatur scheiterte, waren bitter, nicht nur für ihn. Hätten die Mitglieder des Deutschen Bundestages damals gewusst, dass und mit welcher Energie der Staatssicherheitsdienst der DDR das Ergebnis des konstruktiven Misstrauensvotums beeinflusste und mindestens eine Stimme gekauft hatte, wäre womöglich ein anderes Abstimmungsergebnis zustande gekommen - vermutlich auch deshalb, weil Willy Brandt eine Bestätigung im Amt des parlamentarisch gewählten Regierungschefs der Bundesrepublik Deutschland unter solchen Umständen nicht akzeptiert hätte.
Viele Anhänger der Union haben bei den folgenden vorzeitigen Neuwahlen zum Bundestag engagiert für eine Kanzlerschaft Barzels gekämpft, mindestens ebenso viele mit anderer politischer Überzeugung dagegen. Kaum jemand hat ernsthaft bestritten, dass Rainer Barzel diesem Amt gewachsen gewesen wäre.
In seinen politischen Grundeinstellungen ließ sich Rainer Barzel nicht beirren, auch nicht durch Niederlagen; immer blieb er seinen Überzeugungen und seinem Gewissen verpflichtet. Als die Unionsfraktion im Folgejahr dem positiven Votum des Fraktionsführers zum UN-Beitritt der Bundesrepublik nicht folgte, trat Rainer Barzel Anfang Mai 1973 vom Vorsitz zurück. Wenig später gab er auch den Parteivorsitz ab.
Rainer Barzel übernahm neue Aufgaben innerhalb und außerhalb des Parlaments. Er leitete den Wirtschaftsausschuss des Bundestages, später den Auswärtigen Ausschuss. Hervorzuheben ist auch sein Wirken als Koordinator für die deutsch-französische Zusammenarbeit, die er zu Recht als "fundamental" für die deutsche Politik und für Europa insgesamt beschrieben hat. Ebenso am Herzen lag ihm die Verständigung und Aussöhnung mit Polen. Dieses außenpolitische Engagement, das den überzeugten Europäer Rainer Barzel erkennen ließ, hat über Parteigrenzen hinweg große Anerkennung gefunden.
Mit Beginn der 10. Legislaturperiode wurde Rainer Barzel zum Präsidenten des Deutschen Bundestages gewählt. Mit seinem ausgleichenden Charakter, seiner Souveränität und Gelassenheit übte er das Amt fair und unparteiisch aus und wurde vom Respekt aller Fraktionen getragen. Der Einzug der Grünen ins Parlament 1983 gehörte zu den bedeutenden Veränderungen im deutschen Parlamentarismus. Allein der gründlich neue Stil mit damals viel Blumen und wenig konventioneller Kleiderordnung bereitete nicht wenigen Abgeordneten der etablierten Fraktionen Probleme; sie befürchteten gezielte irreversible Verstöße gegen das parlamentarische Regelwerk. Die von manchen geforderte Verschärfung der Geschäftsordnung wehrte der neue Präsident entschlossen ab. In seiner Antrittsrede sagte er: "Keiner hier hat ein besseres Mandat als ein anderer ? Zur Mehrheit führt der Weg der Kompromisse. Unterwegs dahin sind Humor und Witz erwünscht? Wir alle hier wissen: Die Rücksicht auf das Recht des anderen ist die unerlässliche Bedingung des Friedens nach innen wie nach draußen."
Rainer Barzel agierte in diesem Amt keineswegs nur als Verteidiger des Bewährten, sondern auch als kluger Anreger und Erneuerer. Unvergessen bleibt sein Engagement für die Parlamentsreform. Auf seinen Vorschlag hin debattierte der Bundestag 1984 erstmals über sein Selbstverständnis. 45 Abgeordnete ergriffen in der Debatte das Wort, darunter selbstverständlich auch Rainer Barzel. Vieles haben wir seit dieser Initiative von Rainer Barzel gemeinsam auf den Weg gebracht; manches haben wir verbessert. Die Parlamentsreform verstehen wir längst als permanente Aufgabe.
Präsident Barzel hat "seinen" Bundestag, das oberste Verfassungsorgan, stets würdig vertreten. Umso bitterer war sein Abschied aus dem Amt, veranlasst durch Vorwürfe, die ihm im Zuge der parlamentarischen wie juristischen Aufarbeitung der Parteispendenaffäre um die Firma Flick gemacht wurden. Sie haben ihn aufs Tiefste verletzt. Rainer Barzel suchte die Anschuldigungen, die durch eine Medienkampagne begleitet wurden, zu entkräften - vergeblich. Am 25. Oktober 1984 legte er im Interesse der Arbeitsfähigkeit des Parlaments sein Amt nieder. Fast zwei Jahre musste Rainer Barzel mit diesem "Rufmord", wie er es empfunden hatte, leben. Erst dann wurde er vollständig rehabilitiert. Die staatsanwaltschaftlichen Untersuchungen wurden eingestellt - "mangels Tat und Täter oder Helfer". Auch der Bericht des Untersuchungsausschusses räumte die gegen ihn erhobenen Vorwürfe aus.
Pflichtbewusst, wie Rainer Barzel stets war, erfüllte er sein Abgeordnetenmandat bis zum Ende der 10. Wahlperiode. Und er ließ sich ein zweites Mal dafür gewinnen, von 1986 bis 1990 das Amt des Koordinators für die deutsch-französische Zusammenarbeit zu übernehmen. In diesem Amt konnte er Einfluss nehmen auf den Fortgang der politischen Gespräche um die Frage, auf welchem Weg die Einheit zu erreichen sei. Mit dem 3. Oktober 1990 erfüllte sich für Rainer Barzel ein Traum: Die Einheit in Freiheit war erreicht.
Das politische Geschehen in Deutschland und Europa verfolgte unser langjähriger Kollege bis zuletzt sehr wach und kritisch. Er hat sich immer wieder zu Wort gemeldet, auf bedenkliche Entwicklungen hingewiesen, sich mit eigenen Vorschlägen in aktuelle Debatten eingeschaltet. Manche von uns haben bis in die letzten Wochen von ihm Post bekommen.
Er blieb bis zuletzt, was er stets war: ein Parlamentarier mit Leib und Seele, zutiefst überzeugt von den Werten der Demokratie, die er uns als Politiker wie als Mensch vorgelebt hat.