Auch einem Polen würde niemand Gebietsansprüche vorhalten, nur weil er Misnia statt Meißen oder Lipsk statt Leipzig sagt. Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen. Die Namen ferner deutscher Städte wurden nach und nach sprachlich angepasst und somit zu etwas Eigenem gemacht. Die meisten dieser tschechischen oder polnischen Bezeichnungen sind jahrhundertealt und zeugen von weit zurückliegenden Verbindungen.
Doch wenn zwei dasselbe tun, ist es nicht immer dasselbe. In Deutschland ist das Verwenden deutscher Namen für Städte wie Danzig, Breslau oder Marienbad nicht unumstritten. Aus alter DDR-Gewohnheit oder westdeutscher political correctness wird trotz Verknotungen der Zunge manchmal tapfer versucht, Städtenamen wie zum Beispiel Szczecin so richtig wie nur möglich auszusprechen, obwohl das gar nicht viel anders lautende "Stettin" leichter über die Lippen geht. So kommt es gelegentlich zu grotesken Situationen, dass in einer auf Deutsch geführten Unterhaltung der polnische Gesprächspartner von Breslau oder Danzig spricht, während sich sein deutsches Gegenüber in "Wroclaw" und "Gdansk" übt. Als ob den Bemühten die Angst plagte, mit einem deutlich ausgesprochenen "Breslau" könnte der Dämon des Revanchismus der Flasche entweichen.
Es wird noch lange als Anomalie empfunden werden, dass es eine unübersehbare Zahl deutscher Bezeichnungen für Orte gibt, die als Folge von Vertreibungen nach dem Zweiten Weltkrieg heute außerhalb des deutschen Sprachraums liegen, aber davor Jahrhunderte dazugehörten.
Neben bekannteren Städten wie Reichenberg, Oppeln, Brünn, Danzig oder Olmütz und Königsberg können auch kleinere Orte auf dauerhafteren Bestand ihres Namens hoffen, da sie mit bedeutenden historischen Persönlichkeiten in Verbindung gebracht werden. Oberplan im Böhmerwald zum Beispiel, wegen Adalbert Stifter, Krummau, weil Egon Schiele einst in diese zauberhaft schöne Stadt auch dann noch vernarrt blieb, als ihn die Stadtoberen wegen seiner Aktzeichnungen hinauskomplimentiert hatten.
In der selben Reihe stehen etwa das oberschlesische Lubowitz, wo Joseph von Eichendorff das Licht der Welt erblickte, das mährische Zdisslawitz, der Geburtsort von Marie von Ebner-Eschenbach oder das westböhmische Eger, weil dort Wallenstein gemeuchelt wurde.
Andere Orte mögen ihre alten Namen wiederum wegen der besonderen Sehenswürdigkeiten und Kulturdenkmäler bewahren, die sie beherbergen. Zum Beispiel das kleine Dörflein Geppersdorf (Koprivná) am Fuße des Altvatergebirges, in dessen Kirche ein außergewöhnliches Altarbild des berühmten Ro-kokokünstlers Ignaz Günther zu bewundern ist, oder das niederschlesische Jauer (Jawor), wegen seiner prächtigen hölzernen Friedenskirche "Zum Heiligen Geist", die inzwischen zum Weltkulturerbe erhoben wurde.
Manchmal treten verschwundene Namen ganz unversehens in Erscheinung. Zauchtel zum Beispiel, ein kleiner Marktflecken am Oberlauf der Oder. Während der großen Oderflut 1997 arbeitete sich dieser Name ganz nach oben. Er schwamm mit dem aufgewühlten Wasser nach Deutschland, um dann für einige Tage ein Eigenleben in den Wasserstandsnachrichten der ARD-Sender zu führen. Nur ein paar Vertriebene und ihre Kinder, die ihre Wurzeln in dieser Gegend haben, dürften sofort gewusst haben, um welchen Ort es sich handelte. Wie es zur Aufwertung des Ortsnamens kam, kann nur vermutet werden.
Saß in einer Nachrichtenredaktion jemand, der diese Bezeichnung in einer zweisprachigen Karte fand und Zauchtel statt Suchdol nad Odrou wählte, weil ihm die Zauchtel-Variante schon fremdländisch genug klang? Oder war es ein tschechischer Wasserstandsmelder, der es seinem deutschen Kollegen im fernen Deutschland nicht zu schwer machen wollte und ihm deshalb den deutschen Namen des überschwemmten Ortes durchgab? Jedenfalls konnte der hübsche Name für kurze Zeit seine einsame Existenz auf verstaubten alten Karten unterbrechen und sich ein paar schöne Tage in den Medien gönnen. Dabei ließe sich über Zauchtel viel mehr sagen, als dass es an der Oder liegt. Zum Beispiel, dass es zusammen mit dem benachbarten Kunewald, einst eines der bedeutenden Zentren der Mährischen Brüdergemeinde war, deren Mitglieder später Träger der Herrenhuter Weltmission wurden.
Dies sind einige wenige herausgegriffene Beispiele aus einen engmaschigen Netz von deutschen Namen für kleine Städte und Dörfer, Bäche, Wallfahrtsorte, Felshöhlen, Bergspitzen und sonstige Flurbezeichnungen. Viele von ihnen haben keinen prominenten Schutzpatron oder ein besonders markantes Baudenkmal aus vergangener Zeit vorzuweisen, sondern manchmal nur ein verwittertes Marterl am Straßenrand mit einem leeren Platz, der übrig geblieben ist von der nach 1945 herausgemeißelten deutschen Inschrift. Doch bei näherem Hinsehen zeigt es sich schnell, dass sich hinter dem alten Namen ein buntes Mosaikbild einer interessanten, untergegangenen Kultur verbirgt, die es nicht verdient, vollends in Vergessenheit zu geraten. Die alten Namen sind ihr erstes Erkennungszeichen.
Es gibt Touristen, die keine Reise nach Schlesien, Pommern oder in den Böhmerwald planen, ohne vorher die aktuelle Regionalkarte des Höfer-Verlags in die Tasche zu stecken, des einzigen in Deutschland, der mit gewissenhafter Detailtreue die deutschen Namen der kleinsten Einsiedeleien aufführt, zusammen mit den heutigen polnischen oder tschechischen. Sogar die nicht mehr existierenden, irgendwann nach dem Krieg weggebaggerten Dörfer sind mit besonderer Kennzeichnung darauf zu finden. So erfährt der Reisende zum Beispiel, dass die beschauliche Gegend am Oberlauf der Moldau, in der er gerade seinen Urlaub verbringt, die altertümliche Bezeichnung "Loistisches Gereith" trug, nach der Bauernfamilie der Loister, die dort seit Generationen bis 1945 siedelte. Er stellt somit gleichzeitig fest, dass der heutige Name gar nichts mit der Vergangenheit des Ortes zu tun hat, sondern eine schlichte Erfindung ist, wie oft nach dem Krieg geschehen.
Die letzten Angehörigen der so genannten Erlebnisgeneration der Vertriebenen, für die sich die alten Namen mit einer Erinnerung an ein reales Lebensgefühl vermischen, waren beim erzwungenen Weggang vor 60 Jahren Jugendliche oder noch Kinder. Wie lange sich diese Ortsbezeichnungen und alles, was sich mit ihnen verbindet, in der einen oder anderen Weise halten können, hängt auch davon ab, ob es gelingt, die immense durch den Nationalsozialismus und seine Folgen bedingte Schrumpfung des deutschen Sprachgebiets als Verlust erhaltenswerter, keineswegs randständiger Bestandteile der nationalen Kultur anzunehmen. Es hat auch etwas mit Achtung vor der eigenen Sprache zu tun, zu der die alten Namen immer noch gehören, auch wenn sie nach 1945 per Dekret für immer verschwinden sollten.
Müssten die heutigen Bewohner aber nicht beunruhigt sein, dass sie in einer Landschaft leben, deren polnische oder tschechische Bezeichnungen eine zeitlich noch sehr dünne Zeitspanne umschreiben, im Unterschied zu den alten Namen?
Das Gegenteil scheint der Fall zu sein: Umfragen zeigen, dass gerade in solchen Gegenden die Vorurteile und Ängste gegenüber deutschen Nachbarn geringer sind als im Landesinneren, wo der Kontakt zu Deutschen seltener ist.
Nicht wenige Tschechen oder Polen - keineswegs nur Archivare oder Regionalhistoriker - legen Wert darauf, so viel wie nur möglich über die Vergangenheit ihrer einst deutsch besiedelten Region zu erfahren. Sie verfügen über beeindruckendes Detailwissen über die untergegangene Welt, kennen die scheinbar unbedeutendste alte Flurbezeichnung der ihnen zur Heimat gewordenen Region. Manche von ihnen suchen Kontakt zu den Ehemaligen und zu ihren Nachkommen. Sie sind so etwas wie Pioniere einer friedlichen Aneignung des einst durch gewaltsame Umwälzungen ihnen zugefallenen Landes.