Der Schriftsteller und Journalist Nisametin Achmetow hatte bereits 18 Monate in sibirischen Lagern verbracht, als er im September 1986 als erster Gast der neu gegründeten Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte nach Deutschland kam. In Sibirien hatte man ihn gefoltert und bedroht. Sein Verbrechen - eine eigene Meinung. In Hamburg brachte man ihn in eine Wohnung, in der es Bücher gab. Ein Bett, eine Küche, Musikinstrumente. Und Tage, zu denen er ohne Hunger, Schmerzen und Kälte erwachen konnte. Nach einem Jahr der Erholung ging er zurück in ein Dorf hinter dem Ural, wo er heute Bücher schreibt, die erfolglos bleiben. Den erlebten Frieden aber bewahrte er in seiner Seele.
Auch Lipkhan Basajewa und Musa Sadulajew aus Tschetschenien kannten nur noch ein Leben in Furcht, mit Gewalt und Zerstörung. Basajewa, die Menschenrechtlerin und ehemalige Professorin für russische Literatur an der Universität von Grozny, kam nach Deutschland, als sie für das Regime in Tschetschenien zu einer Bürde wurde. Laut und deutlich hatte sich Basajewa vor der EU, den UN und schließlich auch vor dem Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte zur Lage ihres Landes geäußert, hatte die Worte Mord und Genozid, Massenvergewaltigung, willkürliche Verhaftungen und Folter in den Mund genommen. In Deutschland wurden ihr Menschenrechtspreise verliehen, nach Tschetschenien aber flog sie mit zunehmender Angst zurück und entkam nur durch Zufall zweimal einer Verhaftung.
Musa Sadulajew hatte sein ganzes Erwachsenenleben den Krieg in Tschetschenien fotografiert: Ruinen, alte Männer und Frauen mit leeren Gesichtern, die auf zerstörten, zerbombten Gräbern weinten, Kinder mit abgerissenen Gliedern und schließlich auch seinen Freund, einen tschetschenischen Fotografen, den eine Bombe tötete. Mit jedem Foto war er verzweifelter, wütender, lebensmüder geworden. Als man Sadulajew und seinen 12-jährigen Sohn schließlich aus Tschetschenien herausholte und nach Deutschland brachte, glaubte er lange, er sei im Paradies gelandet. Und doch lebte er in Hamburg, als sei er nie angekommen. So groß und gewaltig war die aus Tschetschenien mitgebrachte Trauer. Drei Beispiele von insgesamt 80 Menschen, denen die Hamburger Stiftung bisher zu einer Auszeit von Krieg, Bedrohung und Folter verhalf. Sie kamen aus Algerien, Tunesien, Kolumbien, der Elfenbeinküste, dem Irak, Iran, Tajikistan und Tschetschenien, sie lebten in Lagern, in Gefängnissen, im Untergrund, in Verstecken. Manche waren auf der Flucht, alle hatten Angst. In Hamburg erfuhren sie Schutz, Ruhe und erhielten eine Plattform zur Darstellung ihres Schicksals.
"Der Freiheit ein Mikrofon" reichen, wollte der Vater der Stiftung, der damals amtierende Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi. Erst er, dann jeweils sein Nachfolger waren und sind Erste Vorsitzende dieser Hamburger Initiative zur Unterstützung von Schriftstellern, Journalisten, Malern, Wissenschaftlern und Bauernführern. Dohnanyi sah das Engagement der Hansestadt als politische Verpflichtung, jenen Unterstützung zukommen zu lassen, die in einer Diktatur Widerstand leisten.
Einer der Stifter der ersten Stunde ist der Wissenschaftler Jan-Philipp Reemtsma. Er half über die ersten sieben Jahre und unterstützt auch heute noch einzelne Projekte wie die Veröffentlichung von Literatur und Exilzeitungen. Zu seinen Motiven befragt, zitierte Reemtsma in einem Interview das Gedicht Brechts "Nachtasyl" und drehte dessen Botschaft, die Welt lasse sich durch die Hilfe einzelner nicht verbessern, um. "Ja, es stimmt. Das Zeitalter der Armut und der Unterdrückung wird dadurch nicht beendet. Kein Grund, den Menschen nicht ein Nachtlager zu geben."
Der Hamburger Buchhändler Ocke Rickertsen und Christoph Rinser, Sohn der Schriftstellerin Luise Rinser unterstützen das Projekt seit Jahren. Sein Engagement hinge mit der deutschen Geschichte und dem Schweigen über die Geschichte zusammen, erklärt Rickertsen diese Unterstützung. Auch für Christoph Rinser ist politisches Engagement eine Frage der inneren Geisteshaltung. Jedes Jahr finanziert er einen weiblichen Stiftungsgast. "Die Frauen sind die Zukunft. Sei sind viel stärker als die Männer. Die Männerwelt ist ein Auslaufmodell."
So einmalig die Stiftung für politisch Verfolgte ist, sie hat viele Partner. Die Suche nach geeigneten Kandidaten erfolgt in Zusammenarbeit mit Amnesty International, Veranstaltungen werden organisiert in Partnerschaft mit der Gesellschaft zur Förderung der Demokratie und des Völkerrechts - ein "Kind" des Hamburger Reeders Peter Krämer. Schriftsteller unter den Gästen werden nach Ablauf ihres Stipendiums vom Pen-Club in das Programm "Writers in Exil" übernommen und können ein weiteres Jahr in Europa bleiben. Die Stiftung kann in einem Jahr fünf Gäste aufnehmen. Nicht immer sind diese einfach nur glücklich, der Bedrohung entronnen und in Sicherheit zu sein. Die ersten drei Monate, sagt die Stiftungs-Geschäftsführerin Martina Bäurle, sind das Heimweh und die Fremdheit groß, die Telefonrechnungen hoch. Gäste, die Schlimmes erlebt haben oder deren Familie zurück in Gefahr bleibe, brauchen lange, die Vorteile der neuen Freiheit zu entdecken.
Bäurle ist die einzige Mitarbeiterin der Stiftung und somit mehr als nur deren Geschäftsführerin. Vorschläge für mögliche Gäste werden von ihr recherchiert, Gelder aufgetrieben, politische Kampagnen geplant. Ist eine Einladung ausgesprochen, holt Bäurle die Gäste vom Flughafen ab, bringt sie in ihre Wohnung und kümmert sich in den ersten Wochen um sie. Sie begleitet sie auf Behördengängen, besorgt Kameras, Fahrräder, Karten für's Schwimmbad und gleich die Badesachen dazu. Sie kommt, wenn es Computer-Probleme und Beinbrüche gibt, und auch, wenn das Elend des Exils ihre Gäste übermannt. Dann wird gemeinsam gekocht, geredet und gegessen, so lange, bis alles wieder heller scheint. Alltägliche Missverständnisse und kulturelle Unterschiede gehören zum Arbeitsalltag der Geschäftsführerin dazu. So musste sich Bäurle einmal massiv gegen überzogene Forderungen eines weiblichen Stiftungsgastes wehren. Erst ein Gespräch klärte, dass die Frau aus ihrer Kultur gewöhnt war, stets das Maximale zu fordern, um am Ende wenigstens einen Bruchteil davon zu erhalten.
Von den Tschetschenen hat Bäurle gelernt, dass Freiheit aus kleinen Dingen bestehen kann. Lange hat sie gebraucht, um deren Zurückhaltung, die fast teilnahmslos wirkt, als Zeichen der tief sitzenden Traumatisierung zu erkennen. So sei sie anfangs verwundet gewesen, ihre Stiftungsgäste am helllichten Tag im Pyjama anzutreffen. Bis diese ihr erzählten, sie hätten jahrelang bekleidet geschlafen, immer in Angst vor nächtlichen Verhaftungen, vor einem Klopfen an der Vordertür, bei dem sie zum Hoffenster hinaus gesprungen sind. In diesem Fall wurde das Tragen des Pyjamas zum Symbol für den Frieden, zum Zeichen von Furchtlosigkeit.
Selten lässt Bäurle ihre Gäste leichten Herzens wieder in die Heimat ziehen, vor allem dann nicht, wenn sie das Gefährdungspotenzial hoch einschätzt. Keinem der Stiftungsgäste widerfuhr bislang nach der Rückkehr Schlimmes, manche allerdings zogen sich ins innere Exil zurück. Nun aber steht für die Sadulajew und die Basajewa demnächst die Rückkehr an. Und Tschetschenien gilt noch immer als Grab für jene, die den Russen Widerstand entgegensetzen. Bäurle hofft, die Bekanntheit, die beide in Deutschland unter anderem durch die Arbeit der Stiftung erlangten, möge ihnen ein wenig Schutz sein.