Dies war der erste Anschlag dieser Art seit dem April dieses Jahres, als ein Attentäter einen Anschlag auf das Hauptquartier des italienischen "Provincial Reconstruction Team" (PRT) ausübte. Die Identität des jüngsten Bombers ist nicht bekannt, aber alle Anzeichen deuten auf einen islamistischen Hintergrund. Am selben Tag sprengte sich ein Selbstmordattentäter in Kabul in die Luft und riss drei afghanische Polizisten sowie neun Passanten mit in den Tod. Ein Fahrradfahrer in Char Kota in der Provinz Kandahar zündete einen Sprengsatz, den er bei sich führte, und tötete vier kanadische Soldaten und verletzte elf weitere. 27 afghanische Zivilisten, darunter viele Kinder, zählten ebenfalls zu den Opfern. Der Kommandant der von der NATO gestellten "International Security Assistance Force" (ISAF), hatte noch am Tag zuvor die Region als "frei von der Kontrolle der Taliban" erklärt.
Die Bombe an der Großen Moschee verstärkte ein Gefühl, das auch in Herat herrscht: die Sicherheitslage verschlechtert sich rapide. Die Straße nach Kandahar, die die Stadt mit dem Rest des Landes verbindet, ist nahezu unpassierbar geworden. Kriminelle Banden haben Straßensperren errichtet und rauben die Insassen der Fahrzeuge aus. Delaram, ein kleines Städtchen in der Mitte der Strecke, ist faktisch in den Händen der Taliban. Südlich davon, in nahezu allen Provinzen entlang der Grenze zu Pakistan, findet ein neuer Krieg zwischen den Anhängern von Mullah Omar und neuen wie alten Mitgliedern der Taliban sowie NATO-Truppen statt. Die Taliban galten im letzten Jahr noch als militärisch besiegt, aber sie haben sich reorganisiert und erscheinen schlagkräftiger als jemals zuvor seit dem Einmarsch der US-Truppen im Oktober 2001, die getrennt von der ISAF operieren.
Nahezu täglich werden offene Feuergefechte und eine hohe Zahl von Verlusten auf Seiten der Taliban gemeldet. Allein in den ersten zwei Wochen des Septembers sollen mehr als 500 Mudschaheddin getötet worden sein. Die Angaben sind aber nicht zuverlässig, sondern grobe Schätzungen, da die NATO-Soldaten keine Möglichkeiten haben, Leichen zu zählen. Wie brutal gekämpft wird, wird allein schon daran deutlich, dass in den Meldungen nie von Gefangenen zu lesen ist. Die Zahl der Toten in den eigenen Reihen beträgt mehr als 30, seit die NATO Ende Juli dieses Jahres die US-Truppen im Abschnitt Süd abgelöst haben.
Die Vorgehensweise der ISAF wird zudem von der Bevölkerung der Region heftig kritisiert. Vielfach reicht ein einfacher Verdacht, um eine ganze Ortschaft unter Beschuss zu nehmen oder zu bombardieren. Unter den Opfern sind deshalb viele unbeteiligte Zivilisten. Immer wieder kritisiert die afghanische Menschenrechtorganisation das ungerechtfertigte Blutvergießen, das die Bevölkerung gegen die NATO-Truppen nur aufbringt.
Anfang des Monats machte einer der britischen Offiziere, die an einer Operation in Helmand, einer der heftigst umkämpften Provinzen im Süden, teilnahm, seinem Unmut öffentlich Luft. "Es ist eine einfache Gleichung. Wenn Menschen ihre Häuser und ihre Mohnfelder verlieren, dann werden sie kämpfen. Ich würde es jedenfalls tun", sagte der aus dem Dienst ausgeschiedene Hauptmann Leo Docherty gegenüber der Presse. "Wir waren unglaublich tollpatschig. Nach meinem Eindruck haben wir die Sympathien bereits verloren, bevor wir richtig angefangen haben."
Der Verbund aus mehr als 9.000 vorwiegend britischen, holländischen und kanadischen Soldaten ist in eine Situation geraten, auf die sie nicht vorbereitet war. Geplant war, dass die aus NATO-Soldaten gebildete Internationale Schutztruppe die notwendige Sicherheit auch in den Südprovinzen herstellt, um die afghanischen Behörden beim Aufbau des Landes zu helfen. Statt dessen befinden sich die Einheiten in der Defensive gegenüber einer überraschend starken Koalition von Taliban und terroristischen Kommandos, die Al- Qaida zugerechnet werden.
Wenige Wochen nach Beginn der Stationierung im Süden, die für die NATO nicht nur der größte Einsatz seit ihrer Gründung sondern auch ein Prestigeprojekt ist, wurde klar, dass die Aufgabe weit schwieriger ist, als die Planer gedacht hatten. Auf einem Treffen in Belgien Mitte dieses Monats wurde deshalb an die NATO-Mitglieder appelliert, weitere 2.500 Soldaten für den gefährlichen Einsatz im Süden zur Verfügung zu stellen. Nur Polen reagierte mit der Zusage von 1.000 Mann und diese Einheiten werden auch frühestens im Februar nächsten Jahres eintreffen können. Diskutiert wird eine Verlegung eines Teils der 2.500 deutschen Soldaten, die im verhältnismäßig ruhigen Norden Afghanistans stationiert sind, in den Süden, um dort auszuhelfen, aber die Bundesregierung sträubt sich gegen solche Überlegungen.
Der kommende Winter wird die Kampfhandlungen erst einmal unterbrechen. Bis dahin hofft die NATO, so weit die Oberhand gewonnen zu haben, dass sie auf den erwarteten neuen Ansturm weiterer Kämpfer im Frühjahr vorbereitet ist. Ob dies gelingen wird, erscheint immer zweifelhafter. Ein Scheitern scheint nicht mehr ausgeschlossen.
Afghanistans Präsident Hamid Karzai äußerte sich in seiner Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 20. September sehr nüchtern: "Bedauerlicherweise habe ich nicht nur gute Nachrichten. Der Terrorismus ist zurückgekehrt und Terroristen infiltrieren unsere Grenzen, um eine mörderische Kampagne gegen mein Volk zu führen."
Fragt man den italienischen Oberst Guido Zambuco, Chef des PRT in Herat, warum es um die Sicherheit erneut so schlecht bestellt ist, dann nennt er nur einen Grund: die hohe Armut. Trotz aller seriösen Anstrengungen und vieler lauthals verkündeter Pläne geht die wirtschaftliche Entwicklung äußerst schleppend voran. Zambuco hat in diesem Jahr ein Budget von gut 5 Millionen Euro zur Verfügung, die sich auf Bereiche wie Wasser, Bildung und Gesundheitsversorgung aufteilen. Das ist in einer Region mit mehr als 1,5 Millionen Einwohnern ein Tropfen auf den heißen Stein und Maßnahmen für die dringende Schaffung von Arbeitsplätzen sind darin nicht einmal vorgesehen. Die politische Vorgabe besteht zudem darin, dass das PRT nicht auf eigene Faust Brunnen gräbt oder Kliniken gründet, sondern es sollen die örtlichen Behörden in ihren eigenen Vorhaben unterstützt werden. Die Provinz Herat hat allein 30 Bezirke mit eigenen Verwaltungen, die jeweils konsultiert werden müssen. Hinzu kommt die Abstimmung und Zusammenarbeit mit 30 internationalen und 64 afghanischen Hilfsorganisationen sowie den verschiedenen UN-Organisationen. "Zu viele Treffen, zu viele Köpfe", lautet Zambucos eigene Bilanz.
In der Bevölkerung macht sich zunehmend Enttäuschung wie Ablehnung der internationalen Hilfe bereit. "Wenn eine ausländische Regierung uns Geld gibt, schickt sie erst einmal eine eigene Hilfsorganisation, die mit dem Geld ein Projekt betreiben soll. Diese Leute denken aber zu allererst an sich. Sie haben ein gutes Gehalt, mieten die besten Häuser und fahren die teuersten Autos. Nur das, was dann noch an Geld übrig bleibt, kommt Afghanistan zu gute." Diese Meinung eines Lehrers in dem kleinen Ort Koshk in der Nähe der Grenze zu Turkmenistan ist in vielen Gesprächen mit Afghanen zu hören. Hinzu kommt die wachsende Frustration, dass die neuen Behörden, mit denen ausländische Organisationen zusammenarbeiten, oft nicht weniger korrupt sind als ihre Vorgänger, und die neue Polizei sei selbstherrlich von seiner Macht Gebrauch macht.
Kritisiert wird auch Präsident Karzai. Viele halten ihn zwar nach wie vor für einen Mann, der sich für das Wohl Afghanistans einsetzt, aber für zu schwach, seine Versprechen auch einzulösen. Er sei umgeben von einem korrupten Apparat und sein Einfluss reiche kaum über Kabul hinaus.
Armut sowie der Mangel an Alternativen sind auch die Ursache für das zweite große Problem, das mit der Sicherheitslage Hand in Hand geht. Nach Angaben der UN-Drogenbehörde wird in diesem Jahr in Afghanistan trotz aller Gegenmaßnahmen so viel Opium angebaut wie noch nie in der Geschichte des Landes. Mit einer Produktion von etwa 6.100 Tonnen deckt das Land mehr als 90 Prozent der weltweiten Nachfrage. Es existiert für die Bauern, die zudem mit einer neuen Trockenperiode kämpfen, kaum eine Alternative, die ein ähnliches Einkommen sichert wie der Drogenanbau. Programme wie der Anbau von Safran haben sich nicht durchsetzen können. Die Vernichtung der Mohnpflanzen hat sich als ein Fehlschlag herausgestellt, obwohl weiter daran festgehalten und Geld dafür zur Verfügung gestellt wird.
Das Geld aus dem Opium wiederum kommt zum Teil den Taliban zugute, die mit den Schmugglern kooperieren und mit den Einnahmen in der Lage sind, neue Kämpfer zu rekrutieren und weitere Waffen zu kaufen. Ein gefährlicher Zirkel ist in Gang gekommen, der an die Situation im Irak erinnert. Die Sicherheit ist so schlecht geworden, dass es für die zivilen Helfer immer schwieriger wird, in vielen Regionen zu arbeiten. Das Ausbleiben der Hilfe wiederum führt zur Enttäuschung in der Bevölkerung und erleichtert es den Taliban, neue Kämpfer zu rekrutieren.
An den Irak erinnern auch die Erfolgsmeldungen, die in den letzten Tagen immer wieder von den militärisch Verantwortlichen zu hören sind. Am vergangenen Mittwoch berichtete der Oberkommandierende der ISAF-Truppen, der britische General James L. Jones, durch die Offensive der letzten Woche sei es gelungen, mehr als die Hälfte des harten Kerns von etwa 3.000 Taliban Kämpfern zu töten. Er feierte dies als einen "wichtigen Erfolg". Im April letzten Jahres hatte bereits der Oberkommandierende der US-Truppen in Afghanistan, die getrennt von ISAF operieren, Generalleutnant David W. Barno, das baldige Ende der Taliban angekündigt.
Den Praktikern vor Ort ist dagegen klar, dass sie einen aussichtslosen Kampf führen, so lange es nicht gelingt, größere Fortschritte beim wirtschaftlichen Aufbau Afghanistans zu erzielen. "Wir benötigen Verbesserungen", meint nicht nur Oberst Zambuco von der PRT in Herat. Notwendig wäre eine Straffung der Hilfe, ein effektiverer Einsatz der Mittel sowie eine Konzentration auf Projekte, die schnell sichtbare Ergebnisse bringen. Durch die Fehler der Vergangenheit sind viele Sympathien bei den Afghanen, die in ihrer überwiegenden Mehrheit, die amerikanischen Truppen begeistert begrüßt haben, wieder verspielt worden. Die Stimmung befindet sich auf der Kippe.