Das Jahr fünf nach den Taliban markiert ein Wendepunkt in der Entwicklungshilfe in Afghanistan - nicht nur weil Präsident Hamid Karsai bei der eigenen Bevölkerung und westlichen Diplomaten wegen seines Zauderns und einer Politik der größtmöglichen Konsensstiftung zusehends an Rückhalt verliert. Mittlerweile zeigt sich, dass Präsidentschafts- und Parlamentswahlen weitgehend als Demokratisierung von oben nach unten empfunden werden. Längst hat sich Ernüchterung eingestellt, weil belastete und korrupte Mudschaheddin- und Milizenführer den Ton in der Volksversammlung angeben.
An der Basis, in den Dörfern, reibt sich die politische Neuausrichtung an traditionellen Wertevorstellungen. Den "Shuras", den seit Jahrzehnten bewährten Versammlungen, werden im Eiltempo moderne, gender-politisch austarierte Gremien zur Seite gestellt. Dabei kollidieren Wertevorstellungen der einheimischen Bevölkerung mit Vorgaben einer ungeduldigen Entwicklungshilfe. Kritiker sprechen auch von Afghanistan als einem riesigen Umerziehungslager. Auch der Versuch, mehr Rechte für Frauen zu erkämpfen wird mitunter zu sehr forciert, wie die vermehrten Übergriffe auf neu erbaute Mädchenschulen in jüngster Zeit vermuten lassen.
De facto ist Afghanistan ein Protektorat der USA, der Vereinten Nationen und großer Finanzorganisationen wie der Weltbank oder der Asiatischen Entwicklungsbank. Weit über die Hälfte des afghanischen Haushalts liegt in den Händen ausländischer Akteure. Der Staat hat lediglich auf die Vergabe von 25 Prozent der Hilfsgelder Einfluss. Das schafft Frustration. Mehr Mitsprache würden afghanische Regierung und Parlament in den Augen der Bevölkerung glaubwürdiger machen. Dass die Geberländer die Oberhand über die Hilfsgelder behalten begründen diese mit der weit verbreiteten Korruption in Afghanistan.
Tatsächlich liegt hier eines der größten Probleme. Betrug, Missmanagement und Pfusch sind aber auch unter den internationalen Akteuren zu finden. Die Schnellstrasse zwischen Kabul und Kandahar, ein Vorzeigeprojekt, ist bereits nach zwei Jahren wieder reparaturbedürftig. Sie wurde mit der billigsten aller möglichen Teer-Mischungen gebaut. Hier wie bei anderen Bauvorhaben wurden große Teile der Gelder durch US-Beraterfirmen zweckentfremdet als Gehälter für Spitzenpersonal und Komfortwohnen.
Nach Meinung der in Kabul ansässigen Organisation "Integrity Watch Afghanistan" hat der Westen das Thema Korruptionsbekämpfung lange Zeit vernachlässigt. Um verlorenes Vertrauen wiederzuerlangen hat die internationale Afghanistan-Konferenz Ende Januar 2006 in London ein Plan mit Namen "Afghanistan Compact" vereinbart. Er soll unter anderem helfen, Korruption zu bekämpfen und mehr Transparenz zu schaffen. Bisher hat diese Vereinbarung jedoch noch keine nennenswerten Folgen gezeitigt.
Nur ein geringer Teil der 80 Millionen staatlicher Hilfsgelder aus Deutschland kommt auch tatsächlich bei den Menschen in Afghanistan an. Gehälter, Verwaltung und Material-Aufwendungen staatlicher und halbstaatlicher Hilfsorganisationen verschlingen große Teile. Im besten Fall bleiben 30 Prozent übrig. Die afghanische Regierung behauptet, dass viele Hilfsprojekte den Prioritäten der Bevölkerung nicht Rechnung trügen.
Für die Anti-Drogenpolitik war 2006 erneut ein Jahr ohne durchgreifende Erfolge. Die Anbaufläche nahm erneut um über 50 Prozent zu, in der umkämpften Provinz Helmand sogar um 160 Prozent. Auch der Westen hat hier Fehler gemacht. Die gewaltsame Zerstörung von Feldern ohne gleichwerte Einkommens-Alternative hat nur Sturm geerntet. Jeder radikale Ansatz treibt die Bauern in die Arme der Gegner. Bis alternative Lebensgrundlagen die Einkommensverluste des Mohnanbaus ausgleichen, werden Jahre vergehen. Europäischen und amerikanischen Hilfsprogrammen mangelt es hier außerdem an Koordination.
Vernachlässigt worden ist in diesem Zusammenhang auch der Aufbau von verarbeitender Industrie. Zwar hat diesen Monat in Kabul die US-Firma Coca-Cola für 25 Millionen Dollar die Produktion aufgenommen und 350 Arbeitsplätze geschaffen. Zugleich liegt beispielsweise vor den Toren von Kabul, in der Provinz Wardak, eine ganze Region ertragreicher Obstplantagen. Dort hat man es bisher versäumt Anlagen zu errichten, die industriell für heimischen Markt und Export produzieren. Die deutsche Entwicklungshilfe betreibt zurzeit unter anderem den Wiederaufbau der landesweit größten Zuckerfabrik in der Provinz Baghlan und des Zuckerrübenanbaus. Aber selbst die ertragreichsten Alternativen zum Mohnanbau erreichen maximal ein Drittel des damit erzielten Einkommens.
Auch die Justiz-Reform mit den Italienern als "Lead-Nation" der Entwicklungshilfe, kommt laut Bericht der Bundesregierung kaum von der Stelle. So sind namhafte afghanische Parlamentarier und Regierungsmitglieder in den Drogenhandel verwickelt ohne dass gegen sie vorgegangen wird. Unverändert herrscht ein "state of impunity", ein Zustand der Straffreiheit. Die Staatsorgane werden aber keine Autorität aufbauen können, solange sie selbst Teil des Problems sind.
Die ausländische Präsenz in Afghanistan führt bisweilen zu zweifelhaften Verhältnissen. So sind viele afghanische Fachkräfte nicht adäquat ihrer Qualifikation eingesetzt. Hunderte ausgebildeter Ärzte, Wissenschaftler und Ingenieure in Kabul arbeiten als Wächter oder Fahrer für Ausländer. Damit nimmt man der heimischen Wirtschaft einen Teil ihrer besten Kräfte. Die Forderung nach "mehr afghanischer Eigenverantwortung", wie sie auch im aktuellen Afghanistankonzept der Bundesregierung steht, muss unter anderem an diesem Punkt ansetzen.