Tag für Tag stehen Menschen geduldig in langen Schlangen vor dem Reichstag an, um die gläserne Kuppel des ehrwürdigen deutschen Parlamentsgebäudes zu besichtigen - zwei Millionen sollen es im Jahr sein. Der Besucherandrang kann leicht vergessen machen, welch heftige - nicht selten auch verkrampfte - Debatten geführt werden mussten, bis der Bundestag sein neues Heim an der Spree beziehen und die es umgebenden Parlamentsneubauten sowie das Kanzleramt entstehen konnten. Der ehemalige Bundesbauminister Oscar Schneider rollt diese Debatten in seinem Buch "Kampf um die Kuppel" aus der Sicht des Insiders noch einmal auf. Von der Entscheidung über den Parlaments- und Regierungsumzug von Bonn nach Berlin im Jahr 1991 über den Streit um die Neugestaltung des Reichstagsgebäudes nebst den Auseinandersetzungen um die Kuppel, gefolgt von Kapiteln über die Verhüllungsaktion durch Christo und den umstrittenen Holztrog "Der Bevölkerung" des Künstlers Hans Haacke, spannt Schneider fachmännisch einen Bogen bis hin zur ersten Sitzung des Bundestages im Reichstag am 19. April 1999.
Kein Zweifel, Oscar Schneider weiß, wovon er berichtet: Nach seinem Einzug in den Bundestag im Jahr 1969 machte sich der CSU-Politiker in der Unionsfraktion schnell einen Namen in der Baupolitik. Bereits 1972 übernahm er den Vorsitz im Bundestagsausschuss für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, und zehn Jahre später holte ihn Bundeskanzler Helmut Kohl als Bauminister an den Kabinettstisch. Nach der Regierungsumbildung 1989 wurde Schneider zum Beauftragten des Bundeskanzlers für die kulturellen Bauvorhaben in Bonn und Berlin ernannt.
"Kampf um die Kuppel" ist aber nicht nur von Fachkompetenz geprägt, sondern auch von großer Emotionalität. Kein Wunder, Schneider hat bis zu seinem Ausscheiden im Jahr 1994 ein Vierteljahrhundert dem Bundestag angehört. Von der ersten Zeile an spürt man deutlich: Hier schlägt ein langgedienter Parlamentarier im Geiste noch einmal die politischen Schlachten von damals. Das ist nicht von vornherein zu kritisieren, führt gelegentlich aber zu Schieflagen. Etwa bei seiner Darstellung der berühmten elfstündigen Debatte am 20. Juni 1991, an dessen Ende das Parlament sich nur denkbar knapp mit 338 gegen 320 Stimmen für Berlin als zukünftigen Sitz des Bundestages aussprach. Schneider ist es aber keine Silbe wert, dass sich in den beiden kleinsten Fraktionen, denen der Bündnisgrünen und der PDS, deutliche Mehrheiten für Berlin aussprachen, während die Union nur mit Mühe und Not eine Mehrheit in ihren Reihen mobilisieren konnte. Diskussionsbeiträge von Seiten der Grünen und der PDS fallen gänzlich unter den Tisch. Lediglich die breite Zustimmung der FDP findet Erwähnung. Etwas mehr historische Genauigkeit und politische Fairness wäre hier angebracht gewesen. Wie formuliert Schneider an anderer Stelle seines Buches? "Geschichtsbewusstsein setzt jedoch Geschichtskenntnisse voraus." Doch Geschichtskenntnisse allein, so möchte man ihm entgegenhalten, erzeugt umgekehrt nicht automatisch Geschichtsbewusstsein.
Merkwürdig mutet auch Schneiders Ablehnung der Reichstagsverhüllung durch Christo an. Sie habe gezeigt, "wie leicht der parlamentarische Bauherr in ästhetischen Fragen beim Umgang mit nationalen Symbolen daneben greifen" könne, obwohl er gut 100 Seiten später einräumt, dass die Aktion "verblüffte, faszienierte und weltweit Begeisterung" auslöste. Nun kann man über Kunst trefflich streiten, dem Reichstag als nationales Symbol hat seine Verhüllung jedoch sicherlich nicht geschadet.
Lesenswert ist Schneiders Buch allemal - hat er doch ein Stück deutscher Parlamentsgeschichte zu Papier gebracht. Noch lesenswerter wäre es jedoch ausgefallen, wenn der Autor der Versuchung widerstanden hätte, sich selbst ein Denkmal setzen zu wollen. Wirklich peinlich wirkt dies im Schlusskapitel, das er der letzen Sitzung des Bundestags in Bonn am 1. Juli 1999 widmet. Im Verlauf dieser Sitzung dankte CSU-Landesgruppenchef Michael Glos ausdrücklich Schneider für dessen unermüdlichen Einsatz für die Verwirklichung der Reichstagskuppel - zu Recht. Doch dies allein reicht Schneider nicht, und so lässt er sein Buch doch übertrieben pathetisch mit dem Satz enden: "Als Michael Glos meinen Namen erwähnte, bemerkt das Bundestagsprotokoll: ,Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP.'" Vielleicht hätte Schneider sein Buch besser mit Helmut Kohl enden lassen sollen, der den Bundestag in jener Sitzung ermahnte, "den Geist der Bescheidenheit" zu bewahren.
Oscar Schneider: Kampf um die Kuppel. Baukunst in der Demokratie. Bouvier Verlag, Bonn 2006; 276 S., 20 Abb., 24 Euro.