Wer später einmal auf die Urlaubszeit 2006 zurückblicken wird, den könnte ein mulmiges Gefühl befallen. Gut möglich, dass dies der Sommer war, in dem das Aufklärungsprojekt für lange Zeit auf Fernreisen ging. Europa jedenfalls scheint heuer nur noch ein Paradies für neureligiösen Pauschaltourismus zu sein. Da ist zum Beispiel Hape Kerkeling, ein TV-Entertainer, der bis dato nicht unbedingt durch heiligen Ernst aufgefallen ist. Jetzt aber ist Kerkeling "kurz mal weg" gewesen; nicht in Kalau oder an anderen Spaßoasen. Der Mann hat den Jakobsweg bewandert und über diese religiöse Erfahrung ein Buch geschrieben. Ähnlich skurril verbrachten fünf schwangere Frauen bei Regensburg ihre Sommerfrische. Während der großen Papst-Messe auf dem Isslinger Feld wollten sie öffentlich gebären. Das zumindest wollte die Tageszeitung "taz" herausgefunden haben.
Wohin man schaut, die religiöse Skepsis der Moderne scheint ins Wanken geraten zu sein. Selbst für renommierte Autoren wie Jürgen Habermas oder den Journalisten Wolfram Weimer ist Gott längst nicht mehr das schlechthin Undenkbare. Fast scheint es, als hätte nur ein einziger heller Kopf die Sommerpause dazu genutzt, die Moderne gegen das wachsende Ansinnen religiös Wiedererweckter zu verteidigen: der Philosoph Julian Nida-Rümelin. Der Professor für Politische Theorie an der Universität München hat unter dem Titel "Demokratie und Wahrheit" ein Buch publiziert, in dem er nicht nur gegen das allgemeine Klagen über gottlose Politik und religiösen Werteverfall zu Felde zieht; ebenso bekennt er voller Optimismus: Das Gerüst einer Ethik ohne religiöse Verankerung hält; die Moderne wackelt nicht.
Bei all jenen, die dieser Tage lauthals "rumspenglern", erkennt Nida-Rümelin einen fundamentalen philosophischen Irrtum: Wer Ethik als wissenschaftliche Disziplin begreift, der muss für seine normativen Überzeugungen die gleichen Regeln gelten lassen, wie für seine deskriptiven. Was für die Wahrheiten von Mathematik oder Physik gilt, das gilt auch für die des richtigen Handelns: Regeln werden nicht konstruiert oder aus einem System jenseits der beschreibbaren Wirklichkeit abgeleitet; sie fußen auf der Beschreibung der Wirklichkeit selbst. Daraus zieht Nida-Rümelin einen logischen Schluss: "Das Normative kommt nicht durch das Religiöse in die Welt, sondern es ist immer schon da, wo Menschen miteinander interagieren."
Das ist ein Schlag ins Kontor neu-religiöser Seelenfänger. Die moralische Krise, wie sie etwa die Philosophen Jürgen Habermas oder Ernst Tugendhat ausgemacht haben, ist für Nida-Rümelin lediglich eine Chimäre falsch verstandener Moralphilosophie. Der einstige Kulturstaatsminister macht sich in seinem neuen Buch daher nicht zum Anwalt sittlicher Verlotterung. Im Gegenteil: Für ihn ist eine Ethik, die auf handfesten Gründen und einem "unaufgeregten Realismus" fußt, Grundvoraussetzung für die Sicherung längst gefährdeter demokratischer Werte. Bevor man also aus falscher Not das Projekt Aufklärung abbläst, sollte man in diesem klug geschriebenen Brevier einmal nachlesen, welche Alternativen es sonst noch gibt.
Julian Nida-Rümelin: Demokratie und Wahrheit. Verlag C.H. Beck, München 2006; 160 S., 18,90 Euro.