Zeitgenössische politikwissenschaftliche Analysen benennen immer wieder Defizite demokratischer Prozesse: Institutionelle Blockaden, Vetospieler und Parteienstaat lauten die Stichworte. Selten wird die demokratische Ordnung jedoch im Ganzen einer schonungslosen Kritik unterzogen. Eine solche unternimmt der Schweizer Urs Marti, Privatdozent für Politische Philosophie an der Universität Zürich, wie der Titel des Buches bereits zum Ausdruck bringt. Ihm zufolge ist, wie er am Anfang klarstellt, die These des Politologen Francis Fukuyama vom globalen Triumph der liberalen Demokratie grundlegend falsch. Der Demokratie stehe eine ungewisse Zukunft bevor: "Zahllose Erfahrungen zeigen, dass demokratisch gewählte Regierungen häufig nicht willens, manchmal nicht einmal fähig sind, ihre von der Zukunft oder vom Wählerauftrag definierten Aufgaben zu lösen."
Zunächst setzt sich der Autor mit zahlreichen demokratietheoretischen Implikationen auseinander - mit kritischem Rückgriff auf Denker wie Alexis de Tocqueville und Jean-Jacques Rousseau, die eine Art Fatalismus verbinde. Rousseau wie Tocqueville seien davon überzeugt, dass nur regieren kann, wer über hinreichend Muße verfügt und die dazu nötigen intellektuellen Kompetenzen besitzt, also in der Regel nicht jene, die ganz von ihren täglichen Überlebenssorgen in Beschlag genommen werden.
Um was es Marti wirklich geht, wird erst im zweiten Teil deutlich. Demokratie sei globalen Märkten ausgesetzt, und daher nicht Ausdruck des "Volkswillens". Es entstehe eine "Weltregierung ohne demokratischen Auftrag". Marti spricht die Vereinten Nationen und die Welthandelsorganisation an, unterschlägt aber die Europäische Union, wo sich doch über die demokratische Qualität trefflich streiten ließe und Marti seine Thesen stützen könnte. Die Anwendung neoliberaler Rezepte von Leuten wie August von Hayek wirke als gesellschaftsgefährdender Krisenfaktor. Als Rettung der Demokratien bietet er die Formel nach "mehr Gleichheit" an. Doch verbirgt sich dahinter eine große Gefahr, wie die freiheitsgefährdende Doktrin im real existierenden Sozialismus drastisch vor Augen geführt hat. Der Autor geht darauf mit keiner Silbe ein, genauso wenig auf die Bedeutung rechtsstaatlicher Fragen im Demokratieprozess. Zudem müssten in Martis Logik hohe Sozialquoten zu demokratischer Qualität führen - ein Schluss, der sich so nicht ziehen lässt. Ihm zufolge hat die Demokratietheorie in 200 Jahren keinen Fortschritt gemacht, da sie sich auf rechtliche und politische Gleichheit konzentriere. Sie übersehe, dass diese durch ökonomische und soziale Ungleichheit vollends unterminiert werden könne. Nach dieser Diktion müsste es zu einer Renaissance marxistischer Ansätze kommen.
Abschließend stellt er die Frage nach Alternativen. Interessante Experimente seien im brasilianischen Porto Alegre oder einigen indischen Staaten anzutreffen, wo unterprivilegierte Bevölkerungsgruppen einbezogen würden.
Insgesamt bleibt dem Rezensenten ein negativer Eindruck, obwohl die demokratietheoretischen Kenntnisse und der kurzweilige Schreibstil zu loben sind. Demokratiekritik muss zwar legitim sein. Marti schlägt mit seinem Krisenszenario allerdings über die Stränge. Nur ein Beispiel sei angeführt. Immer wieder überzeichnet er die angeblich zentrale Gefahr für die europäischen Staaten durch rechtsextremistische und populistische Parteien und fragt: "Weshalb geben, in Deutschland beispielsweise, Menschen ihre Stimmen rechtsextremen Parteien, die nationalsozialistisches Gedankengut vertreten?" Die reale Lage ist eine andere, Europa von einer "braunen" Umwälzung weit entfernt. In Deutschland haben solche Parteien bundesweit keinerlei Chancen auf politischen Einfluss.
Urs Marti: Demokratie. Das uneingelöste Versprechen, Rotpunktverlag, Zürich 2006, 256 S., 19,80 Euro.