In einem Punkt zeigen sich die meisten der 42 Autoren des Buches einig: Der Begriff Leitkultur ist offensichtlich nicht konsensfähig. Vor allem dann nicht, wenn von deutscher Leitkultur die Rede ist. Die einen lehnen ihn ab, weil sie ihn als ausgrenzend und abwertend anderen Kulturen gegenüber empfinden. Andere halten ihn für unscharf oder missverständlich. Und eine dritte Partei will - obwohl sie selbst keine Probleme mit dem Begriff hat - gerne auf ihn verzichten. Die in Istanbul geborene und in Berlin lebende Rechtsanwältin Seyran Ates bringt es auf den Punkt: "(...) um zu einer solchen Diskussion über gemeinsame Werte zu kommen, sollten wir vielleicht in Zukunft auf dieses Wort verzichten." In einem Land, in dem so freudig und heftig über Begriffe gestritten wird wie in Deutschland, so pflichten ihr mehrere Autoren bei, ist dies wohl auch besser so.
Auch ansonsten findet der Leser jede Menge Gemeinsamkeiten: allen voran das klare Bekenntnis zur Verfassung beziehungsweise jenen Wertvorstellungen, auf denen sie beruht. Oder die Aussage, dass die deutsche Sprache von jedem, der dauerhaft in diesem Land leben will, zumindest verkehrssicher beherrscht werden muss. Oder die Forderung, dass jeder gemäß seiner Religion und seiner kulturellen Werte in Deutschland leben darf - solange diese nicht deutschen Gesetzen zuwider laufen. Je länger man liest, desto häufiger stellt man sich die Frage, warum noch debattiert und nicht längst schon verstärkt gehandelt wird.
Überraschend neue Ansätze für die Diskussion wird man in diesem Buch vergeblich suchen. Diese konnten wohl auch erst gar nicht entwickelt werden. Dafür hätte man die Autoren nicht im stillen Kämmerlein schreiben lassen dürfen, sondern sie zu einem offenen Meinungsaustausch einladen müssen. So beschränken sich viele Autoren leider darauf, jene Standpunkte, die man aus ihrem Mund schon dutzendfach vernommen hat, erneut abzuspulen. Als Beispiele seien hier nur die beiden Bundestagsabgeordneten Lale Akgün (SPD) und Ekin Deligöz (Grüne) genannt. Sie begreifen die ganze Debatte von vornherein als eine, die sich im Kern lediglich um die Frage der Integration von Mig-ranten dreht. Es ist zwar einerseits durchaus verständlich, dass türkischstämmigen Politikerinnen dieses Problem ein Herzensanliegen ist, und wahr ist auch, dass der Begriff Leitkultur in diesem Kontext geboren wurde, aber bei der Frage nach dem kulturellen Selbstverständnis und den Werten einer ganzen Nation greift ein solcher Ansatz definitiv zu kurz.
Einen Hinweis darauf gibt der Schauspieler Mario Adorf, wenn er fragt, wer denn die Rolle des Vermittlers eines kulturellen Selbstverständnisses übernehmen soll. Eine Antwort liefert er zwar auch nicht, verdeutlicht aber am Beispiel des Fernsehens - dem "wichtigsten und mächtigsten Multiplikationsfaktor der Moderne" - das Problem: Im kulturellen Bereich rutsche hier "das Niveau seit Jahren rapide und erschreckend abwärts". So mancher Lehrer und Schüler würde an dieser Stelle hinzufügen: An Deutschlands Schulen auch. Und so müsste die entscheidende Frage in der Tat wohl auch eher lauten, wie die mehrheitlich anerkannten kulturellen Werte vermittelt werden können - auch jenen gegenüber, denen sie fremd sind.
Eines offenbart die Lektüre des Buches leider: So mancher Autor ist entweder nicht fähig oder nicht willens, aus seiner berufsbedingten Diskussionskultur auszubrechen. Fritz Kuhn, Vorsitzender der grünen Bundestagsfraktion, beispielsweise greift gleich zu Beginn seines Beitrages tief in die Kiste des verbalen Wahlkampfes: "Schade um das schöne Wort. Friedrich Merz hat es versaut: Leitkultur. Nach dem Motto ,Mal allen zeigen, wo der Hammer hängt' redete er einer deutschen Leitkultur das Wort. (...) Bei Merz hätte die deutsche Leitkultur sogar auf einen Bierdeckel gepasst." Und weiter: "Wir Grünen haben den Begriff Leitkultur weggebissen. Und das war gut so." Nicht unbedingt ein geeigenter Einstieg, um sich einer sachlichen Debatte anzunähern.
Die Publikation bietet insgesamt zwar einen guten Überblick über den Stand der Diskussion, leidet allerdings unter der Vielzahl von Begriffen und Ansätzen: Werte, Kultur, Verfassung, Integration und spätestens seit der Fußball-WM Patriotismus. Alles soll unter einen Hut. Kein leichtes Unterfangen. Für Lammert gehört Patriotismus neben den kulturellen Orientierungen gleichberechtigt zum Selbstverständnis einer Nation: "Das eine ist ohne das andere nicht zu haben." In seinem Vorwort zeigt er sich hoffnungsvoll: "Das selbstbewusste Bekenntnis zum eigenen Land, der unbefangene Gebrauch nationaler Symbole, verbunden mit ungewohnter Lockerheit, Weltoffenheit und Toleranz, vermittelten ein neues Bild von Deutschland, das überall mit Sympathie registriert worden ist." Doch Patriotismus braucht auf Dauer eben eine breitere Grundlage als Fußball. Das hat sich unlängst im patriotisch gesinnten Frankreich deutlich gezeigt, als eine verfehlte Integrations- und Sozialpolitik zu gewalttätigen Ausschreitungen führte. Auch in Deutschland wird der Beweis erst noch erbracht werden müssen, ob die schwarz-rot-goldenen Augenblicke des Sommers wirklich als Beleg für eine tiefere Identifikation mit der eigenen Nation gelten können.
Norbert Lammert (Hg.): Verfassung. Patriotismus. Leitkultur. Was unsere Gesellschaft zusammenhält. Hoffmann u. Campe, Hamburg 2006; 308 S., 14,95 Euro.