Der Nationalsozialismus, der seit 1933 mit geradezu revolutionärer Macht das Geschehen in Deutschland bestimmte, konnte sich die im ganzen Land weitverbreitete Empörung über die Friedensregelungen von Versailles zunutze machen. Die Verträge, die den Ersten Weltkrieg besiegelten, waren keineswegs als endgültig akzeptiert: Von den deutschnationalen Monarchisten über die politische Mitte bis weit ins kommunistische Lager galten die Abmachungen, die in den Pariser Vorortverträgen 1919 beschlossen worden waren, als ein "Diktat" und das Ganze als ein "Schandvertrag". Der liberale Publizist Theodor Wolff hatte im Mai 1919 die Unterzeichnung des Versailler Vertrages mit der Begründung abgelehnt, es müsse verhindert werden "dass auf den von ihm selbst geschaffenen Trümmern der völkerverhetzende, reaktionäre Nationalismus anlockend und triumphierend aufs Neue die Revanchefahne pflanzt". Man mag heute zwar mit durchaus guten Gründen argumentieren, dass der Versailler Vertrag besser war als sein Ruf und dem Deutschen Reich Zukunftsmöglichkeiten eröffnete, aber zeitgenössisch war er Anlass zu Verbitterung und zu der immer wiederkehrenden Forderung nach "Revision".
Von Patriotismus, einer Vaterlandsliebe, die aus demokratisch-humanitären Erwägungen auch andere Nationen und deren Interessen wohlwollend anerkennen wollte, war kaum noch die Rede. Der Traum eines "vereinten Europa" war auf Zirkel geradezu exotisch wirkender Minderheit beschränkt. Der Missbrauch nationaler Gefühle durch antiliberale und antidemokratische Bewegungen war nicht allein auf Deutschland beschränkt, sondern in weiten Teilen des durch den Weltkrieg tief verstörten Kontinents zu beobachten. Das gilt vor allem für die Staaten, die territoriale Verluste im Ersten Weltkrieg erlitten hatten oder deren Gebietsgewinne, wie im Falle Italiens, nicht groß genug erschienen. Auch in Ost- und Südosteuropa versuchten viele der neugegründeten Staaten ihre innere Instabilität durch einen aggressiv übersteigerten Nationalismus zu kompensieren.
Vor diesem Hintergrund bedeutete der "völkische" Nationalismus der NSDAP, wie er unter anderem von George Mosse anschaulich in seinem Werk über die "Nationalisierung der Massen" beschrieben und analysiert worden ist, etwas Neues: Während der traditionelle Nationalismus zahlreiche Verbindungen zum wilhelminisch-imperialen Nationalismus des Kaiserreiches aufwies, nahm der radikalere und in bestimmten Sinn "modernere" und dynamischere "Nationalrausch" (Otto Dann) wie er sich im Nationalsozialismus präsentierte, zwar diese Tendenzen auf, hatte aber doch andere Wurzeln und andere Zielsetzungen. Auch seine Ursprünge lagen im 19. Jahrhundert, und er bediente sich bestimmter Elemente des Kolonialismus und Imperialismus. Der Sozialdarwinismus jener Zeit konnte als Vorbote des nationalsozialistischen Rassenwahns gelten, der allerdings eine derart kategorische Übersteigerung war, dass er als Überwindung der bisher bekannten Formen des Nationalismus eingeschätzt werden muss.
Der nationalsozialistische Biologismus ging in Kultur und Politik mit der Etablierung eines nationalen Überlegenheitsgefühls einher, das darauf abzielte, alle Gesellschaftsschichten der Nation als "Volksgemeinschaft" in einem unerbittlichen und als unvermeidlich deklarierten Kampf gegen einen vermeintlichen äußeren Feind zusammenzubinden. Äußerlich war er - in einer weitgehend säkularisierten geistigen Welt - durch die Überhöhung und Sakralisierung des Nationalen gekennzeichnet, wie sie in Mythen, Symbolen und Zeremonien ebenso zum Ausdruck kamen wie in einem messianischen Glauben an einen charismatischen "Führer", der als "Retter" Deutschland erlösen werde. Hitler, der mit den traditionellen Beschränkungen des herkömmlichen Nationalismus nichts anfangen konnte und den Begriff des Patriotismus nur selten benutzte, versprach, die beiden großen politischen Strömungen des 19. Jahrhunderts, den Nationalismus und den Sozialismus zu versöhnen. Der Begriff "Nationalsozialismus" war daher trotz aller inhaltlichen Unbestimmtheit eine griffige und attraktive Parole. Dass Hitler zudem seine Versprechungen einer umfassenden Revision der Ergebnisse von Versailles zunächst auf friedlichem Weg in die Tat umsetzte, führte zu einem wahren Taumel nationaler Begeisterung, der selbst bei vielen, die dem Nationalsozialismus ablehnend gegenüberstanden, zu Selbstzweifeln führte: Konnte man das "Vaterland" lieben und gleichzeitig den Diktator ablehnen, der offenkundig die Mehrheit des Volkes hinter sich wusste und die nationalen Hoffnungen auch der "Patrioten" erfüllte? Dass der biologisch begründete Nationalismus ganz andere Ziele verfolgte, Hitler die "triumphal wiederhergestellte Großmacht […] bloß als Mittel zum Zweck" interessierte (Christan Graf von Krockow) und der Kurs des Diktators in die Bestialität führen musste, war den meisten Deutschen wohl nicht klar oder sie verschlossen vor den Konsequenzen die Augen.
Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, standen die Deutschen vor einem Dilemma, dem sie kaum zu entrinnen vermochten: Selbst diejenigen, die ernsthaft einen Sturz Hitlers ersehnten und einen Krieg ablehnten, erwarteten nun mit banger Hoffnung einen Sieg. Es gehörte zu der oft beschworenen "diabolischen" Kraft, mit der der "Führer" den größten Teil der Deutschen im Krieg geradezu hinter sich zwang und den Nationalgedanken pervertierte, um seine eigenen rassenideologischen Ziele durchzusetzen. Die nationalen Traditionen und Werte, mit denen die Deutschen aufgewachsen waren, machten es gerade jetzt schwierig, Kritik an der Staatsführung zu üben, die ihre verbrecherischen Ziele unter dem Deckmantel einer nationalen Notwendigkeit instrumentalisierte. Wenn ein Mann des Widerstands wie Ulrich von Hassell zu Anfang des Zweiten Weltkrieges berichtete, die Leistungen des Heeres würden "natürlich Stolz und Freude, aber keine wirkliche Begeisterung" hervorrufen, traf er damit die Stimmung vieler Deutscher: Das Land befand sich geradezu im "Würgegriff" eines "pervertierten Patriotismus" (Volker Kronenberg), der nun mit Hitlers Armeen wirkungsmächtig ganz Europa mit Krieg überzog.
Um so bemerkenswerter ist es, dass sich trotz aller ideologischen Verlockungen und Zwänge in Deutschland ein antitotalitärer Widerstand entwickeln konnte, der den hypertrophen Nationalismus des "Dritten Reiches" innerlich überwand. Das "andere Deutschland" im Widerstand gegen Hitler handelte "patriotisch", wenn es auch vermessen und unhistorisch wäre, die Gedankenwelt des Widerstands an den Maßstäben einer gefestigten Demokratie des 21. Jahrhunderts zu messen. Ohne im einzelnen auf die von der Sozialdemokratie bis zu den bürgerlichen Kräften reichende Gedankenwelt des "20. Juli 1944" und des "Kreisauer Kreises" einzugehen, waren die verschiedenen für eine "Friedenszeit" entwickelten Pläne zukunftsweisend. Beispielsweise stand im "Friedensplan" Carl Goerdelers von Ostern 1941 nicht ein Schachern um Gebietsansprüche im Vordergrund, sondern der Wunsch nach Wiederherstellung eines als rechtmäßig empfundenen Status quo ante. Hier wurden bereits rechtsstaatliche internationale Regelungen avisiert, die sich aus nationalen Befangenheiten lösten. Dies ist um so erstaunlicher, als - auf dem Zenit der europäischen Machtstellung Hitlers - alle Nachkriegsplanungen darauf abgestimmt sein mussten, die zögerlichen Militärs von der Notwendigkeit eines Staatsstreiches zu überzeugen. In diesem Zusammenhang hatten die vom Widerstand entwickelten Gedanken mit überkommenen nationalen Traditionen wenig gemein: Der Abbau der Zollgrenzen, die Bildung eines "Weltwirtschaftsrates", Rüstungskontrolle und die internationale Kontrolle der Rüstungsindustrie, internationale Schiedsgerichtsbarkeit, schließlich die Gründung einer regelmäßigen Konferenz der europäischen Staaten konstituierten Elemente, die an die Ideen des Völkerbunds erinnerten. Selbst manche Nationalkonservative im Widerstand konnten sich Europa als ein an das Commonwealth angelehntes Prinzip vorstellen und plädierten für einen europäischen Föderalismus, wenn auch viele sich dies unter Führung eines "erneuerten, aufgeklärten Deutschlands" erhofften. Während jedoch die nationalkonservativen Patrioten den Untergang des Reichs noch verhindern wollten, akzeptierte der "Kreisauer Kreis" die nationale Niederlage als Voraussetzung einer politischen Läuterung. Sie waren bereit, sich dem Unvermeidlichen zu fügen, um in einem Nachkriegseuropa ohne nationale Eitelkeiten einen Neuanfang zu wagen.
Der Autor ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Bonn.