In der Bundesrepublik Deutschland ereigneten sich mit Blick auf den Patriotismus jüngst zwei Merkwürdigkeiten im doppelten Sinn: Merkwürdig im Sinne von "seltsam" und "unerwartet" war es, dass ausgerechnet linke und liberale Intellektuelle wie Matthias Matussek und Reinhard Mohr, um nur zwei Namen zu nennen, das Thema aufgegriffen haben; als merkwürdig im Sinne von "bemerkenswert" fiel auf, dass die Autoren den Begriff des Patriotismus derart positiv sehen. Gibt es tatsächlich einen Wandel? Wenn ja, wie zeigt er sich? Was sind die Ursachen dafür? Wie ist die Veränderung zu bewerten? Und: Was heißt Patriotismus eigentlich?
Der Begriff meint erstens Liebe zum Vaterland. Patrioten bekennen sich nicht nur zu den Höhen der eigenen Geschichte, sondern auch zu den Tiefen. Geschichte wird nicht selektiv wahrgenommen. Zur deutschen Geschichte gehören die zwölf Jahre des Nationalsozialismus, aber eben nicht nur sie. Zweitens meint Patriotismus die Gleichstellung anderer Nationen. Das eigene Land rangiert nicht über dem anderer Völker. Patrioten sind keine Chauvinisten. Allerdings - kein Staat der Welt ist davor gefeit - kann Patriotismus in Nationalismus umschlagen. Ein übersteigertes Nationalgefühl ist in der Vergangenheit oft die Quelle für Feindseligkeiten zwischen den Völkern gewesen, gar für kriegerische Auseinandersetzungen mit leidvollen Folgen. "Right or wrong - my country" - dies ist nicht die Devise von Patrioten, sondern von Nationalisten. So mancher Kampf um (legitime) nationale Befreiung schlug in (illegitimen) "Befreiungsnationalismus" um.
Der Wandel ist mit Händen zu greifen. Als das "Deutsche Historische Museum" im Juni 2006 die Dauerausstellung "Deutsche Geschichte in Bildern und Zeugnissen" eröffnete, blieb Kritik aus. Zwei Jahrzehnte zuvor - im Zusammenhang mit dem "Historikerstreit", der weniger ein historischer Streit als ein Streit um die "richtige" Deutung war - grassierten Unterstellungen und Diffamierungen: Der Vorwurf der "Sinnstiftung" und der "Entsorgung" der Geschichte gehörte zu den eher harmlosen Begleiterscheinungen der Auseinandersetzung. Die Angst, Auschwitz könnte relativiert werden, beherrschte die Diskussion. Der Hinweis, die deutsche Teilung müsse nicht das Ende der deutschen Geschichte sein, galt nahezu als Sakrileg. Eine intensive Erörterung des Schicksals der deutschen Vertriebenen kam ebenso erst in den letzten Jahren auf wie die Kritik an den alliierten Bombardements auf die deutsche Zivilbevölkerung.
Und wer hätte es im Jahre 1974, als Deutschland Fußballweltmeister wurde, für möglich gehalten, dass eine Generation später ein großer Teil der Jugend "Flagge" zeigt, obwohl dem Land der Gewinn der Meisterschaft in der Sportart Nr. 1 versagt blieb? Nationale Symbole wie die Hymne erfahren eine noch vor Jahren unvorstellbare Aufwertung. 1974 galt es weiterhin als schick, die dritte Strophe nicht zu singen.
Die Ursachen für diesen Wandel sind höchst vielfältig. Mittlerweile, mehr als 60 Jahre nach dem Ende des von Deutschland angezettelten Krieges, ist die Auffassung verbreitet: Deutschland hat seine bittere Lektion gelernt. Insofern gilt es als legitim, auch heikle Themen anzusprechen, ohne dass ständig der Verdacht von der Relativierung der Vergangenheit aufkommt. Die junge Generation, die dank ihrer Weltoffenheit fremde Länder kennt, weiß zunehmend: Die Liebe zur Heimat schließt kosmopolitisches Denken nicht aus, sondern ein.
Die deutsche Einheit, der eine friedliche Revolution in der DDR voranging, führte zu einem mannigfachen Umdenken. Eine postnationale Demokratie ist wohl doch nicht das letzte Wort in der deutschen Geschichte gewesen. Die Einheit rief keinen nationalistischen Furor hervor, auch keinen patriotischen. Sie galt gleichsam als selbstverständlich - im Osten mehr als im Westen. Die DDR, in mannigfacher Hinsicht der "deutschere" deutsche Staat, und ihre politische Kultur waren stark von alten - auch nationalen - Traditionen bestimmt. Viele DDR-Bürger sehnten sich schon deshalb nach der deutschen Einheit, weil sie das weitaus schwerere Los gezogen hatten. Nach der deutschen Einheit wurde vielen bewusst: Verfassungspatriotismus - die Verteidigung freiheitlicher Werte - ist zwar notwendig, aber für das Gedeihen des Gemeinwesens wohl nicht hinreichend.
Eine weitere wichtige Ursache für die Zunahme patriotischer Vorstellungen bildete der ungefilterte Regierungswechsel des Jahres 1998. Personen wie Joseph Fischer gelangten an die Spitze des Staates, den sie einst abgelehnt, ja bekämpft hatten. Sie söhnten sich mit ihm aus, übernahmen Verantwortung und veränderten vielfältig die Gesellschaft. Die Akzeptanz der "Homo-Ehe" ist nur ein Beispiel. Das förderte die Identifizierung mit dem Gemeinwesen. Gerhard Schröder trat betont selbstbewusst auf - sein Wort vom "deutschen Weg" war für die einen als linker Wilhelminismus ein Stein des Anstoßes, für die anderen ein erfreuliches Zeichen der Eigenständigkeit.
Der Wandel ist überwiegend positiv zu sehen. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte haben die Deutschen keine Gebietsansprüche an andere Länder, diese keine an die Deutschen. Das ist eine gute Voraussetzung für aufgeklärten Patriotismus. Jeder Form des Rechtsextremismus wird der Wind aus den Segeln genommen. Es war nicht überzeugend, gegen Nationalismus zu wettern - und zugleich Patriotismus unter Verdacht zu stellen. Manche Form der Bußfertigkeit wirkte wie eine Art Sühnestolz.
Die Menschen im Einwandererland Deutschland können durch Patriotismus besser zusammenwachsen. "Parallelgesellschaften" - so lauten die Hoffnungen - lösen sich eher auf. Freilich: Die Annahme, Patriotismus mindere schwerwiegende ökonomische Probleme und politische Krisen, ist wohl ein frommer Wunsch. Insofern sollten gerade Anhänger patriotischer Vorstellungen ihre Position nicht überziehen, rufen erhöhte Erwartungen doch Frustrationen hervor. Das Gewollte wird nicht erreicht, das Erreichte war so nicht gewollt.
In Europa vollzieht sich ein Angleichungsprozess. Deutschland wird durch gelassenen Patriotismus noch mehr eine westliche Nation, als es ohnehin schon ist. Die Vergangenheit verliert ihre Orientierungskraft. Diese Form der Normalisierung ist kein Grund, Ängste zu schüren und vor Nationalismus zu warnen. Wir sind dabei, ein ausbalancierteres Verhalten zur eigenen Identität zu gewinnen. Die Last der Geschichte hat ein solches lange erschwert. Vielleicht steht nun ein Gezeitenwechsel bevor. Der neue Patriotismus hat nur eine Chance durch geschmeidige Unverkrampftheit. Je weniger die Bürger von ihm sprechen, umso mehr gedeiht er. "Deutsch, aber glücklich" - dieser Buchtitel von Bernd Ulrich bringt den Wandel gut zum Ausdruck.
Autoren wie Matussek und Mohr vermitteln durch ihre leicht ironische Distanz eine unbeschwerte Form des Patriotismus, die sympathisch berührt und weit von jeglichem Hurra-Patriotismus entfernt ist. So heißt es bei Reinhard Mohr: "Nirgends auf der Welt sind Mülltonnen ein schöner Anblick. In Deutschland aber stehen sie wenigstens in einer Reihe und werden pünktlich abgeholt - fast so wie die Milchkannen in der inneren Schweiz. Das gilt auch für falsch geparkte Autos, Altkleider-Container und noch nicht ganz, aber schon fast völlig abgegessene Teller im Restaurant, die die nette Bedienung mit dem Kampfruf ‚Hat's denn geschmeckt?!' in einer blitzartigen Armbewegung abräumt. Die deutsche Verlässlichkeit, oft als reaktionäre Spießerhaltung verschrien, mit der man auch Freibäder, Atomkraftwerke und weit Schlimmeres betreiben könne, ist ein Grundpfeiler des deutschen Daseins, den inzwischen auch jene nicht missen möchten, die ihn früher unbedingt zum Einsturz bringen wollten." Deutschland hat sich gewandelt - und ist doch in manchen Punkten unverändert geblieben.
Der Verfasser ist Professor für Politikwissenschaft an der TU Chemnitz.