Aber der wilhelminische Untertan und sein lärmender Nationalismus war in der historischen Abfolge nur die Deformation des Patrioten, sie waren der Missbrauch der Vaterlandsliebe für die Zwecke des anachronistisch gewordenen Obrigkeitsstaates. Nationalismus ist denaturierter Patriotismus. Es gab und gibt etwas anderes, das Ursprüngliche: die Zuwendung zu einem Land, das Idee und Wirklichkeit freier Menschen ist. Dafür standen in Deutschland Heinrich Heine und sein Ruf nach freier Selbstbestimmung eines Volkes, die Idee, dass der freie stolze Mensch nur in einer freien Gemeinschaft zu existieren vermag, damals also die Befreiung von napoleonischer Unterdrückung und die schwarz-rot-goldene bürgerliche Revolution von 1848.
In der anschließenden Restaurationszeit galt den Reaktionären auf Fürstenthronen dieser Patriotismus als ernste Gefahr, eine Bedrohung ihrer Herrschaft. Immerhin war der moderne Patriotismus, die Identifizierung mit der Nation die alles brechende Kraft der amerikanischen Unabhängigkeit und der französischen Revolution. Bismarck hat insofern die deutsche Geschichte auf Abwege geführt, weil er, der kein deutscher Patriot war, die Nationalbewegung um ihre demokratische freiheitliche Seele bringen und die andere, die geistlosere Hälfte für das preußische "Machtpragma" dienstbar machen wollte.
Der Blick in die Geschichte zeigt: Es gibt einen Patriotismus, ohne den keine Demokratie, kein freiheitliches Land auskommen kann. Es gibt aber zugleich das negative Gegenstück im Nationalismus, in jener Enge, die immer gegen die Freiheit anderer Völker und Menschen, aber auch in letzter Konsequenz gegen die des eigenen Volkes gerichtet war. Wer von Patriotismus redet, meint heute genau wie die Liberalen vor 200 Jahren gewiss nicht jenes laut tönende, innerlich leere Auftrumpfen eines dumpfen Nationalismus. Und doch denkt jeder sofort auch an die negative Seite, die irgendwie jedem Patriotismus wie ein böser Schatten zu folgen scheint. Es scheint, dass man das eine nicht ohne die Gefahr des anderen haben kann, und das macht - für Deutsche zumal - den Begriff prekär.
Hier springt der Verfassungspatriotismus ein. Der von Dolf Sternberger geprägte Begriff versucht gleichsam, "die gute Seite" allein zu bekommen. Schon Kurt Tucholsky wollte - zum Guten hin - das Patriotische halbieren, wenn er sagte: "Wir pfeifen auf die Fahnen, aber wir lieben dieses Land". Der Verfassungspatriotismus stellt allerdings nicht mal mehr das Land, nicht das Volk, nicht die konkrete Nation in den Mittelpunkt, sondern rechtliche Grundwerte, vor allem die Idee des freien und gleichen Bürgers, der in einer politischen Gemeinschaft über die Idee der Volkssouveränität zur Selbstherrschaft gelangt. Das scheint wenig und ist doch viel, weil wir damit ein Stück wieder bei Heinrich Heine angekommen sind, der sein Vaterland - mitsamt der Fahnen - nur dann lieben konnte, wenn es frei war, galten seine Sympathie und seine Verse ansonsten dem bedrängten Volk, dem großen Lümmel.
Wer einen von gefährlichen Emotionen gereinigten, jede Gefahr des Nationalismus ausschließenden Patriotismus will, lässt aber dann auch die positiven Seiten außen vor. Was soll Volkssouveränität ohne Volk sein, was soll geschichtliche Verantwortung der Deutschen ohne Nation sein? Verfassungspatriotismus ist halbierter Patriotismus. Er setzt allein auf freiheitliche Grundwerte in Rechtsform. Das hat gewiss Vorzüge. Die Grundrechte der deutschen Verfassung sind bei aller historischen Prägung im Kern nicht spezifisch deutsch, sondern westlich im Herkommen und als Konkretisierung der Menschenrechte auch universal im Ziel. Sie lassen sich deshalb leicht europäisch extrapolieren - die europäische Grundrechte-Charta zeigt es - und mit der Idee und politischen Wirklichkeit der Menschenrechte zu einer Art kosmopolitischen Patriotismus weiterbauen. Im Grunde scheint es dann völlig gleich, welche Sprache jemand im Lande spricht, welche Kultur ihn prägt und welche Religion er wählt. Hauptsache: Er achtet die Freiheit des anderen, respektiert die Gleichheit vor dem Gesetz und die Regeln des Rechtsstaates. In der Tat, es gibt diese kosmopolitische Gemeinsamkeit von Menschen und Völkern, die auf Rechtswerte gründet; sie liegt in der Konsequenz der humanistischen Idee.
Aber als reine Universalidee der Menschenrechte kann der Humanismus nicht recht die Herzen ergreifen. Er braucht die partikulare Unterstützung weltoffener freier Nationen, die diese Werte schützen und ihren tieferen Sinn in ihnen finden, ideell und praktisch. Denn diese Nationen sind die Garanten für Freiheit und Sicherheit der Weltgesellschaft. Deshalb hat das Partikulare einen immensen universellen Wert. Die Geschichte eines Volkes, der Schatz seiner Sprache, das Gedächtnis seiner Kunstwerke, Gewohnheiten des Alltagslebens, Symbole der Zusammengehörigkeit wie Hymne, Fahne, Hauptstadt sind keine gefährlichen Begleiterscheinungen von Freiheit und Demokratie. Im Gegenteil: Die Lehre aus der Geschichte lautet, die Symbole der Republik, der Nation, des Staates und der Verfassung niemals mehr in die Hände der Feinde von Demokratie und Freiheit zu lassen. Sie gehören uns, den Demokraten. Die Fahne der Republik und das Lied der Deutschen, der Reichstag, alte Denkmäler und neue Gedächtnisstätten, die auch die dunkelsten Zeiten eines Volkes als Mahnung lebendig halten, sie stehen für ein großes Land, das nichts anderes anders sein will als in den humanen Werten von Freiheit, Gleichheit, Demokratie mit anderen Völkern geeint, aber wie diese auch ganz selbstverständlich, ganz nüchtern seine Identität und Interessen zu wahren sucht. Bundespräsident Horst Köhler hat Recht, wenn er sagt, dass Patriotismus heute nur noch weltoffen sein könne, aber zugleich Weltoffenheit ohne Patriotismus keine Zukunft habe. Das Selbstbestimmungsrecht und das Existenzrecht von Völkern ist so wichtig wie die individuellen Garantien von Menschenrechten, Grundrechten und sozialem Ausgleich, aber hinzugetreten ist auch eine neue menschenrechtlich begründete Pflicht, die bewährten Ordnungsräume des Rechtsstaates zu erhalten oder neu zu gestalten, in denen Freiheit und Frieden, Rechtssicherheit und Achtung des Anderen gewährleistet sind.
Wer die Freiheit liebt, wird dieses Land und seine Menschen mögen, wird wachsam die rechtliche Ordnung dieser Freiheit hüten und ihre kulturellen Grundlagen pflegen. Die Bundesrepublik ist viel mehr das Ergebnis unseres Wollens als jede politische Ordnung zuvor. Sie ist ein Spiegel unserer Tatkraft, aber auch unserer Schwächen und Versäumnisse. Jede Rechtsordnung, auch die Verfassungsordnung, jedes Wertesystem ruht auf einem kulturellen Fundament, das sie zwar beeinflusst, aber nicht zu beherrschen vermag. Die Alltagsvernunft der Bürger, ihre Vorstellungen vom Sinn des Lebens, ihr Fleiß, ihre Toleranz, ihre Ansprüche an sich selbst und an ihre soziale Umwelt, ihre Idee vom aufrechten Gang, vom Zusammenhalt sind ausschlaggebend - auch für die Zukunft der Verfassung.
Der Autor ist Richter am Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe.