Den Stolz auf ihre Heimat muss man den Sachsen wahrlich nicht beibringen. Ganz selbstverständlich hat man sich bei der Neugründung des Landes nach dem Ende der DDR als "Freistaat" wieder gefunden. Dessen Bewohner stehen anderen Freistaatlern mit ungebrochenen Traditionen an Selbst- und manchmal Sendungsbewusstsein nicht nach. Die kulturellen und wissenschaftlich-technischen Leistungen der Sachsen waren schließlich selbst durch den Eisernen Vorhang sichtbar. Als der korrodierte und fiel, wehten hierzulande als erstes die schwarz-rot-goldenen Fahnen. Mit Deutschland, so schien es, hatten die Sachsen kein Problem, auch wenn "Bundesrepublik" davor stand.
Der Schrecken fuhr den politischen Verantwortungsträgern erst in die Glieder, als ihnen klar wurde, welche Herausforderung die Osterweiterung der EU gerade für Sachsen mit seiner unmittelbaren Nachbarschaft zu den Billiglohnländern Polen und Tschechien bedeutete. Dass die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit auch den Nährboden für politische Unkultur bereiten konnte, hatte man lange Zeit verdrängt. Selbst der wegen seines Weitblicks hoch angesehene, langjährige Ministerpräsident Kurt Biedenkopf irrte, als er die Sachsen für immun gegen neonazistische Tendenzen hielt. Mit dem Einzug der NPD in den Sächsischen Landtag sah sich die CDU mit dem Vorwurf konfrontiert, in vierzehn Jahren Alleinherrschaft zu wenig unternommen zu haben, um den rechten Rand der sächsischen Gesellschaft aufzuweichen.
Die diesen Vorwurf erhoben, sitzen jetzt gemeinsam mit der CDU am Kabinettstisch und waren empört, als ihr Koalitionspartner vor Jahresfrist versuchte, sich der Aufgabe zu stellen. Die Junge Union war mit einem Thesen-Papier vorgeprescht und der Landesparteitag der CDU Sachsen verabschiedete im November 2005 einen Leitantrag zum deutschen Patriotismus im vereinten Europa. Die darin enthaltenen Formulierungen erschienen der SPD "deutschtümelnd"; sie machte "an Nationalismus grenzende Positionen" aus, die von den Ansichten der NPD nicht mehr weit entfernt wären. Vor allem aber ärgerte sie die Sichtweise der CDU, dass die ideologischen Kämpfe der "68er" eine "Diskreditierung wertorientierter patriotischer Positionen" und einen "negativen Nationalismus" hervorgebracht hätten.
Das maßgeblich vom ehemaligen sächsischen Kultusminister Matthias Rößler formulierte CDU-Papier unternimmt den Versuch, Begriffe zu klären. Patriotismus dürfe nicht mit dem historisch belasteten "Nationalismus" gleichgesetzt, Heimatliebe nicht mit Chauvinismus verwechselt werden. Das Papier liest sich wie eine Handreichung für Lieschen Müller, damit sie sich von keinerlei einseitiger Geschichtsbetrachtung in ihrer emotionalen Verbundenheit mit ihrem "Vaterland" beirren lassen soll. Die Propagierung des "Multikulturalismus" wird als Verwirrungsfaktor im Selbstverständnis des de Gaulleschen "Europa der Vaterländer" ausgemacht. Das kulturhistorische Erbe von Christentum und Aufklärung wird als konstituierend für die EU betrachtet, weshalb die "islamische Türkei" diesem Club nicht angehören dürfe.
Den Klarstellungen aus CDU-Sicht zum Thema "Patriotismus" sind die anderen demokratischen Parteien bislang nicht mit eigenen Überlegungen entgegengetreten. Dabei wäre gerade in den neuen Bundesländern eine Diskussion darüber wünschenswert, meint der Dresdner Politikwissenschaftler Werner J. Patzelt. "Hier gibt es einen frei fluktuierenden Patriotismus, der kein normatives Gehäuse findet." Eine Verortung der eigenen nationalen Identität sei notwendig, "nicht in der verzweckenden Engführung des Themas Patriotismus zur Deckelung der NPD, sondern wegen der anhaltenden Zuwanderung aus anderen Kulturkreisen." Weil mit der Wiedervereinigung keine gesamtdeutsche Verfassungsdiskussion einherging, fehle es der ostdeutschen Bevölkerung an Identifikationsmöglichkeiten über den Verfassungspatriotismus, der in der alten Bundesrepublik den nationalen Patriotismus ersetzt habe. "Das Thema selbst ist keineswegs problematisch, nur der Diskurs, der mit Phantomängsten besetzt ist," findet Politikwissenschaftler Patzelt. Allerdings erfordere eine offensive Patriotismusdebatte argumentative Kompetenz und Stärke.
In Sachsen misslang den Christdemokraten der erste und bislang einzige Versuch, ihr Thesenpapier in Politik umzusetzen. Den Parteitagsbeschluss, die Nationalhymne regelmäßig an Sachsens Schulen singen zu lassen, stellte sie nicht wie geplant im Landtag zur Abstimmung. Zu groß war der Ärger mit dem Koalitionspartner SPD, der sich weder an der Patriotismusdebatte beteiligen noch gar einen Antrag unterstützen wollte, der womöglich auch die Stimmen der NPD erhalten hätte. "Patriotismus kann man nicht herbeireden oder verordnen", das Thema lasse sich auch nicht parteipolitisch instrumentalisieren, hatte Matthias Rößler selbst geschrieben. Doch auch am linken Rand wurden Unbeholfenheiten im Umgang mit den Thesen der CDU deutlich. PDS und Grüne forderten die Abschaffung der alten und eine neue, zeitgemäßere Nationalhymne; die FDP schüttelte ob des "ideologischen Schmierentheaters" den Kopf. Die Patriotismusdebatte verschwand so schnell aus den Schlagzeilen, wie sie hineingeraten war.
Das änderte sich erst mit dem "fröhlichen Patriotismus" der Fußball-WM. Alle Welt staunte über den unverkrampften Umgang der Deutschen mit ihren nationalen Symbolen und ihre guten Gastgeberqualitäten. Befürchtungen, die NPD könne sich auf der patriotischen Welle in den Vordergrund schieben, verschwammen im schwarz-rot-goldenen Fahnenmeer. Aus dem tauchte unerwartet eine Studentin der Geschichte und Politikwissenschaft an der TU Dresden auf, gleichzeitig Landtagsabgeordnete der PDS in Sachsen, und rief dazu auf, Deutschlandfahnen gegen PDS-T-Shirts mit dem Aufdruck "Nazis raus aus den Köpfen" einzutauschen. Schwarz-Rot-Gold stünde für "eine auf Ausgrenzung basierende nationale Zusammengehörigkeit, für ein Wir-Gefühl gegen die anderen." Nun fühlte sich sogar der Fraktionsvorsitzende die Linke-PDS Peter Porsch genötigt, sich von den Umtrieben des Parteinachwuchses zu distanzieren und die Patriotismusdebatte wieder aufleben zu lassen: "Man kann nicht glaubwürdig gegen Fremdenfeindlichkeit auftreten und zugleich die Symbole der eigenen Kultur hassen", schrieb er der Genossin ins Stammbuch. Hymne falsch, Fahne richtig - die Frage, wann, mit welcher Ernsthaftigkeit und zu welchem Zweck über Einstellungen zur Nation diskutiert wird, stellt sich deutlich. Im Falle der PDS ging es wieder einmal eher um den Kampf der "Jungtürken" gegen die Altkader, der dem Nachwuchssternchen Julia Bonk die unvergleichliche BILD-Schlagzeile "Balla-Balla-Bonk" eintrug.
Völlig ungeordnet, diffus werde über den Patriotismus diskutiert, meint Politikprofessor Werner J. Patzelt. Vor allem aber werden tatsächlich Meinungen ausgetauscht, wenn Provokationen im Raum stehen. Das zeigen 62 Zuschriften bei "spiegel-online" zur Nationalhymne und 43 Einträge bei "faz-online" zur PDS-Fahnenaktion. Das Interesse an Orientierungsmustern für die globalisierte Welt scheint im außerparlamentarischen Raum eher vorhanden zu sein als manche Politiker annehmen. Matthias Rößlers CDU-Thesenpapier jedenfalls ist bis heute nachzulesen auf der Internetseite des Netzwerkes von Initiativen gegen Rassismus und Rechtsextremismus "Tolerantes Sachsen".
Die Autorin arbeitet als freie Journalistin in Dresden.