Viele, die sich zur so genannten Linken in Westdeutschland zählten, waren der Auffassung, die deutsche Teilung sei die "gerechte Strafe" für den von Deutschland begonnenen Zweiten Weltkrieg und die deutschen Verbrechen während der Nazi-Zeit. Die Deutschen sollten dauerhaft in zwei Staaten leben. Eine deutsche Nation, ein wiedervereinigtes Deutschland - dass konnte in ihrem Gedankengebäude doch nur zu neuen Katastrophen führen.
Diese Katastrophen sind bis heute, 17 Jahre nach der friedlichen Revolution vom Herbst 1989, ausgeblieben. Manche haben als Ersatz dafür versucht, die Deutsche Einheit schlecht zu reden oder für gescheitert zu erklären. Das diente oft mehr der eigenen Rechtfertigung, als dass es eine zutreffende Analyse gewesen wäre. Ein Wortführer dieser angeblich so progressiven Linken war Günter Grass, von dem wir seit kurzem die eigene Befangenheit kennen.
Sie alle sind schon viel früher von ihrem hohen moralischen Ross gestürzt worden. Von einer zutiefst "basisdemokratischen Volksbewegung" in der DDR im Herbst 1989: "Wir sind das Volk! - Wir sind ein Volk!" Im ersten Satz ging es um Demokratie; der zweite stand für die erste inhaltliche Forderung, die die "Massen erfasste" - nämlich die nach der Einheit des Landes. Auf diese einzige erfolgreiche Freiheitsrevolution in der deutschen Geschichte können alle Deutschen und erst recht alle "Basisdemokraten" stolz sein. Nicht ein "nationalistischer Mob", nicht die in Holocaustfragen ungebildeten Ostdeutschen, sondern bester Bürgersinn und ehrlich empfundenes Zusammengehörigkeitgefühl als Deutsche verschafften sich damals politisches Gehör.
Aber die Ostdeutschen verstanden nicht, warum die urdemokratischen Farben Schwarz-Rot-Gold an ihren Autos und die Freude über die Wiedervereinigung auf so viele skeptische Reaktionen im Westen stießen. Sie hatten die Bürde unterschätzt, die die "68er" Deutschland mitgegeben haben: das tiefe Misstrauen dem eigenen Land gegenüber. Sie sollten "geradeaus nach Europa" und wollten doch nur zurück nach Deutschland. Deutschland, das war doch selbst für die Partei- und Staatsführung in der DDR im Grunde immer positiv besetzt. Es gab Nationalpreise und historisch integrierte man nach Martin Luther 1983 Ende der 80er-Jahre sogar Friedrich den Großen und Otto von Bismarck in das sozialistische Geschichtsbild. Ganz selbstverständlich erschien allen 1978 im Zentralorgan der SED, im "Neuen Deutschland", eine Überschrift in sonst nur im Westen üblichen großen Buchstaben: "Erster Deutscher im All". Man fühlte sich, zumindest wenn man Erster war, immer als Deutscher und nicht als DDR-Bürger.
Mit der friedlichen Revolution vom Herbst 1989 war für viele im Westen ein ganzes Gedankengebäude in sich zusammengebrochen. Die Fundamente waren nicht tragfähig, und es ist auch intellektuell falsch, zwölf Jahre schrecklichster deutscher Geschichte dafür verantwortlich zu machen, ob es Deutschland noch geben darf und ob man es noch lieben darf.
Patriotismus stand dem damaligen, allgemeinen Lebensgefühl der Individualisierung in der alten Bundesrepublik entgegen. Die Deutschen trauten sich ja 1990 nicht einmal, den Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft richtig zu feiern, aus Angst, das könnte im Jahr der Wiedervereinigung das Fass zum Überlaufen bringen.
Aber die negativen Seiten der Individualisierung sind rechtliche "Vereinzelung" und oft auch gesellschaftliche Isolierung. Familie, Korpsgeist an Universitäten, Vereinsleben, gemeinsames Singen und viele anderen Formen von Gemeinschaften wurden bewusst zerstört, zumindest diskreditiert. Wo Gesellschaft alles ist und Gemeinschaft nichts gilt, wird das eigene Land herz- und seelenlos. In einer Gesellschaft nur aus "Individuen" entsteht auch kein Vertrauen! Vertrauen wird in kleinen und großen Gemeinschaften erworben; dort wo entgegengebrachtes Vertrauen auch den anderen verpflichtet und bindet. Das trifft auf alle Ebenen zu - von der Familie über das Dorf, die eigene Region bis hin zur Nation und auch für Europa, das nach Jacques Delors ebenfalls eine Seele braucht. Ohne ein gewisses Mindestmaß an Zusammengehörigkeitsgefühl werden moderne Gesellschaften nicht überleben. Heute erklären Motivationsberater sogar in den erfolgreichen Unternehmen des globalisierten Marktes eben diese emotionale Sicht auf viele Probleme als unverzichtbar.
Natürlich ist die Skepsis gegenüber einem leicht missbräuchlich verwendbaren Gemeinschaftsbegriff gut verständlich seit Hitlers "Volksgemeinschaft" und dem "deutschen Wesen", an dem die Welt genesen soll. Aber es verhält sich wie mit vielen Dingen: Sie können missbräuchlich eingesetzt werden, aber es ist dennoch nicht klug, darauf zu verzichten! Lange wollte sich Deutschland weder als Nation noch als europäisch gewachsene Kulturnation bezeichnen. Kommunitarismusforscher Hans Joas bezeichnete einmal Gemeinschaften als die "kommunikative Infrastruktur" einer Gesellschaft. Das gleiche sind Nationalstaaten in einer globalisierten Welt. Wir brauchen eine eigene Identität, um mit anderen in Kontakt treten zu können und mit ihnen unterschiedliche Interessen und Überzeugungen auszutauschen.
Wer selbst keine eigene Meinung hat, ist auf Dauer kein interessanter Gesprächspartner. Wer sich nicht einmal selber vertraut, wie sollten dem andere vertrauen!
Bei sehr vielen Menschen und Staaten im Ausland genießt die Bundesrepublik Deutschland hohes Vertrauen. Wir sollten es nicht durch unser Misstrauen uns gegenüber enttäuschen. Das ist eine ganz alte Weisheit, die schon bei Moses auf den Steintafeln stand: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Der zweite Teil wurde leider zu oft vergessen. Der eigene, nicht verneinte, sondern positiv bekannte Patriotismus hilft deshalb auch, andere Völker in ihrem Stolz und in ihrer Liebe zu ihrem Vaterland besser zu verstehen. Im Grunde ist Patriotismus nicht mehr und nicht weniger als das, was uns anderen gegenüber glaubwürdig macht.
Zu unserer Identität als Deutsche gehören unauslöschbar die zwölf Jahre Nationalsozialismus mit all den unfassbaren Verbrechen. Aber im 200. Jahr des Untergangs des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation darf eben auch auf die vielen großen Traditionen und Erfolge verwiesen werden. Die friedliche Revolution vom Herbst 1989 und die staatliche Wiedervereinigung 1990 gehören zu diesen ganz großen historischen Momenten unserer jüngsten deutschen Geschichte. Deshalb habe ich auch ein Freiheits- und Einheitsdenkmal auf der Berliner Schlossfreiheit vorgeschlagen, denn wir sollten auch in dieser Form an die Aktiva deutscher Geschichte erinnern.
In beidem, wie wir mit dem Positiven und wie wir mit dem Negativen in der Vergangenheit umgehen, entscheidet sich, wie vertrauenswürdig wir Deutsche anderen gegenüber wirken.
Der Autor, Berliner CDU-Politiker, ist Menschenrechtsbeauftragter der Bundesregierung.