Wer hätte vor 16 Jahren gedacht, dass sich die Diskussion um Patriotismus und Nationalismus so unverkrampft entwickeln würde, wie es heute der Fall ist? Die weltoffene deutsche Jugend lehnt Nationalismus ebenso ab, wie sie ganz gelassen einen deutschen Patriotismus pflegt. Dieser Patriotismus definiert sich als emotionale Verbundenheit mit dem eigenen Land aus politischen, ethnischen oder kulturellen Gründen. Dieses Gefühl muss keine Angst mehr haben, als chauvinistisch verschrien zu werden.
Solche Gelassenheit schließt nicht aus, dass man gelegentlich auch noch einen ganz verkrampften Umgang mit Patriotismus beobachten kann. Der Fall der jüngsten deutschen Landtagsabgeordneten, Julia Bonk (PDS) aus Sachsen, hat dies in eindrücklicher und für mich auch erheiternder Weise deutlich gemacht. Im Juni 2006 startete sie eine Umtauschaktion zur Fußball-Weltmeisterschaft, die unter dem Motto "Nein zum Deutschland-Hype" versuchte, möglichst viele schwarz-rot-goldene Fahnen von der Straße zu holen, da die deutsche Fahne auch ein Zeichen für die Ausgrenzung anderer sei. Innerhalb der Umtauschaktion wurden drei deutsche Flaggen gegen eine DVD und
ein T-Shirt mit der Aufschrift "Nazis raus aus den Köpfen" eingetauscht. Das Angebot wurde damit begründet, dass im Hinblick auf die nationalsozialistischen Verbrechen die deutsche Fahne niemals nur ein Fußball-Wimpel sein könne. Neben Verkrampftheit offenbart diese Initiative auch eine gehörige Portion historische Unkenntnis: die Nationalsozialisten haben gerade nicht die schwarz-rot-goldene Fahne verwendet, sondern sie abgeschafft. Schwarz-Rot-Gold stand für die Paulskirchenverfassung von 1848 und für die Weimarer Verfassung, jedoch nicht für die nationalsozialistische Diktatur.
Die gelassene bis ausgelassene deutsche Stimmung während der Fußball-Weltmeisterschaft kann getrost patriotisch genannt werden. Dabei soll offen bleiben, ob dieser Patriotismus mehr der National-Elf und ihrem verdienten dritten Platz oder Deutschland als Ausrichter dieses Sportereignisses galt. Wie auch immer - gerade diese Ausgelassenheit gab in schönster Weise Julia Bonks Umtauschaktion der Lächerlichkeit preis.
Im Jahr 1990 erlebten wir in der Diskussion um den Weg zur deutschen Wiedervereinigung den Patriotismus noch wesentlich verkrampfter. Diejenigen, die die patriotische Karte zogen, wurden nicht richtig ernst genommen. Patriotische Gefühle haben, zumindest bei der ostdeutschen Bevölkerung, eher untergeordnete Rollen gespielt. Die Ostdeutschen haben die Wiedervereinigung nicht aus patriotischen, sondern aus ökonomischen Gründen forciert.
Dies gilt für die Mehrheit. Eine Minderheit, zu der auch ich zähle, hat das Wagnis der Vereinigung im Gefolge der Währungsunion vom 1. Juli als ökonomische Unvernunft bezeichnet. Ich hielt wie Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl den Umtauschkurs Westmark zu Ostmark von 1:1 für ökonomisch gefährlich. Ein Verhältnis von 1:3 bis 1:4 wäre der ostdeutschen Wirtschaft besser bekommen, möglicherweise auch ein Weiterbestehen der Ostmark für eine Übergangszeit. Der Umtausch 1:1 befriedigte zwar ostdeutsche Konsuminteressen, aber keineswegs investive Wirtschaftsinteressen.
Aus diesem Grunde wird wohl niemand die Losung auf Demonstrationen im Frühjahr 1990 "Kommt die DM bleiben wir, kommt sie nicht, gehen wir zu ihr" als patriotisch bezeichnen. In dieser Zeit habe ich die vielen schwarz-rot-goldenen Fahnen nicht positiv-patriotisch erlebt, wohl aber die ebenfalls zahlreichen weiß-grünen sächsischen Fahnen. Der eigenen Region auch in ökonomisch schwieriger Lage die Treue zu halten galt für mich mehr, als einer harten deutschen Währung hinterherzulaufen. Zu guter Letzt hat sich auch ein gewisser sächsischer Patriotismus bezahlt gemacht, denn Sachsen braucht den Vergleich mit anderen ostdeutschen Ländern nicht zu scheuen.
Außer ökonomischen Gründen waren für die Vereinigung nach Artikel 23 des Grundgesetzes auch historisch-politische Erwägungen maßgeblich. Angeblich hatten wir damals nur eine historische Sekunde lang Gelegenheit zur deutschen Einigung. Helmut Kohl hat nach eigenem Bekunden diese einmalige Gelegenheit beim Schopfe ergriffen und Michail Gorbatschow dazu gebracht, die deutsche Vereinigung zu akzeptieren. Wäre es nicht zur schnellen Vereinigung gekommen, so eine damals und teils auch heute noch herrschende Interpretation, wäre eine einmalige Chance vertan gewesen.
Ich halte diese Interpretation der Ereignisse nicht wirklich für patriotisch, sondern eher für kleinmütig. Zwar versuchten die Altstalinisten um Verteidigungsminister Jasow und KGB-Chef Krjutschkow noch im August 1991, durch einen Putsch die Macht an sich zu reißen, aber die Moskauer Demonstranten und Boris Jelzin waren stark genug, den Putsch kläglich scheitern zu lassen. Selbst bei einer angenommenen erfolgreichen stalinistischen Wende in Russland hätte noch immer das kämpferisch-selbstbewusste Polen dazwischen gestanden und eine Wiedererrichtung der Mauer und des Besatzungsregimes in Ostdeutschland verhindert.
Eine wirklich patriotische Gesinnung hätte nach meinen damaligen Vorstellungen zur Schaffung eines gemeinsamen Wirtschaftsraums mit unseren polnischen und tschechischen Nachbarn geführt. Eine verzagte Haltung dagegen führte zu so einem Plakat, wie es auf einer Dresdner Demonstration gesehen wurde: "Helmut nimm uns an die Hand und führe uns ins Wirtschaftswunderland!" Aus diesen zwei Gründen - ökonomische Unvernunft und politischer Kleinmut - würde ich die deutsche Wiedervereinigung nicht als patriotischen Akt werten. Die Fußballweltmeisterschaft 2006 erscheint, obwohl unpolitisch, allemal patriotischer als die Wiedervereinigung.
Patriotismus wird heute auch deshalb positiv bewertet, weil er den rechtsextremen Kräften Boden entzieht. Aber wie sieht deren Nationalismus aus? Im sächsischen Landtagswahlkampf 2004 gewann die NPD Wählerstimmen mit Plakaten wie "Grenzen dicht für Lohndrücker!" Diese Losung ist nicht nur nationalistisch, sie ist auch ökonomisch orientiert. Sie wendet sich nicht nur an die vergleichsweise kleine Zahl der Nationalisten, sondern auch an die viel größere Schar der ökonomisch Unvernünftigen und konnte deswegen in Sachsen zu einem Wahlerfolg von 9,2 Prozent für die NPD führen.
Was wäre 1990 patriotisch gewesen? Für mich war es eine neue gesamtdeutsche Verfassung mit verfassunggebender Versammlung und Volksentscheid. Und das auch, wenn es sich dabei "nur" um das modernisierte Grundgesetz mit dem Austausch des Artikels 23 gehandelt hätte. Nicht "durch das Volk" wurde Artikel 23 jedoch am 21. Dezember 1992 gestrichen, sondern "durch Bundestag und Bundesrat" und durch einen Artikel "Europäische Union" ersetzt.
Das Handeln der Akteure von 1989/1990 wird heute oftmals unter dem Gesichtspunkt betrachtet, was es denn zur Einheit beigetragen habe. So werden heute Helmut Kohl und Lothar de Maiziere positiv bewertet, Oskar Lafontaine und viele ostdeutsche Bürgerrechtler dagegen negativ, nur weil diese nicht die schnelle Einheit wollten, jene sie aber erfolgreich durchsetzten. Ich sehe in der deutschen Einheit nicht das Kriterium, an dem das Handeln von 1990 zu messen sei. Für mich ist die Verwirklichung der Menschenrechte Maßstab für politisches Handeln. Leider war meine Position damals nicht mehrheitsfähig, obwohl wir vom Neuen Forum im Herbst 1989 doch das Gefühl hatten, eine breite Mehrheit des Volkes stünde hinter uns. Uns bedeutete damals Meinungs-, Presse-, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit mehr als das Recht, seinen Wohnort zu wechseln. Uns bedeutete damals das Streikrecht mehr als das Recht auf Wohlstand - das übrigens kein Grundrecht ist. Und uns bedeutete das Recht auf demokratische Mitbestimmung mehr als der Wunsch, in einem vereinigten Deutschland zu leben.
Auch heute noch halte ich die Einheit Deutschlands nicht für einen Wert an sich, obwohl ich zu einem gesunden Patriotismus, der nicht in Nationalismus ausartet, ein gelassenes Verhältnis gefunden habe. In der Form des Verfassungspatriotismus, der sich vor allem an den im Grundgesetz verankerten Menschenrechten orientiert, kann sich in meiner Generation und der meiner Kinder ein patriotisches Verständnis zur eigenen Staatsbürgerschaft entwickeln, das sowohl rechtsextreme Dummheit wie linksextreme Verbohrtheit ausschließt.
Der Autor ist Mitbegründer des Neuen Forums, von 1990 bis 1994 war er Landtagsabgeordneter in Sachsen (Bündnis 90/Grüne), seit 2001 leitet er die Chemnitzer Stasiunterlagenbehörde (BStU).