Die eigentliche Party fand woanders statt: Auf der Weltpremiere von Sönke Wortmanns WM-Doku "Deutschland - ein Sommermärchen" am Abend in Berlin. Hier war sie plötzlich wieder: Die Euphorie dieses spektakulären WM-Sommers 2006, die eine ganze Nation über sich selbst staunen ließ. Im Film lebt der Jubel weiter. Er sei, schrieb Reinhard Mohr tags darauf im "Spiegel", "das Protokoll einer Veränderung", "die Innenaufnahme deutscher Seelenzustände im Sommer 2006" - kurz: ein Stück Geschichte verpackt in 108 Minuten Wackelbilder.
Das Stück Geschichte lässt sich in Zahlen ausdrü-cken: 58 Prozent der unter 30-Jährigen, besagt eine Allensbach-Studie, haben zur WM eine deutsche Fahne getragen. Bei den 30- bis 44-Jährigen waren es knapp 50 Prozent. Sie haben die Fahne in großer Mehrheit als sichtbare Identifikation mit dem eigenen Land verstanden, als Symbol eines fröhlichen, weltoffenen Patriotismus und nicht etwa als Vorzeichen eines neuen deutschen Nationalismus. Ein erstaunlicher Wandel: Nach Ende des Zweiten Weltkrieges kam das Tragen der Fahne oder das Singen der Nationalhymne für die Mehrheit der Deutschen nicht mehr in Frage. Nationale Symbole waren ihnen nach der Symbolflut des Dritten Reiches suspekt geworden. "Der von den Nazis ausgebeutete radikale Nationalismus hat die nationale Gesamtstimmung bis zum Exzess ausgenutzt", erklärt der Bielefelder Geschichtsprofessor Hans-Ulrich Wehler diese Haltung: "Deutschland, Deutschland über alles - das war ja die reine Hybris, die sich damit verband."
"Nie wieder Deutschland" - das war daher für Jahrzehnte die Parole vieler, besonders linker Intellektueller. Das Modell "Nationalstaat" lehnten sie nach den Erfahrungen des Nazi-Regimes grundsätzlich ab, auch die Einheit der Nation war ihre Sache nicht. Darüber hinaus waren sogar im Jahr 1994 noch 44 Prozent der Bevölkerung überzeugt, dass die deutsche Geschichte ein Nationalgefühl und nationale Symbole weitgehend verbiete. Heute denken so nur noch 22 Prozent.
Hans Ottomeyer, der Generalintendant des Deutschen Historischen Museums (DHM) in Berlin, ist über diesen Mentalitätswandel hoch erfreut: "Die WM hat gezeigt, dass auch Bürger die Fahne besitzen und zeigen dürfen. Die fast ausschließliche Beschränkung des Gebrauchs auf den Staat wurde damit ad absurdum geführt." Warum auch nicht, meint er: "Diese Symbole, die deutsche Fahne, die Hymne, das sind doch Teile unserer freiheitlich-demokratischen Tradition. Sie stammen aus dem Kontext der 1848er-Revolution. Und damals haben sich die Deutschen das erste Mal in einer weitgehend friedlichen Revolution ihre Rechte ertrotzt."
Tatsächlich sind sowohl Schwarz-Rot-Gold als auch die Nationalhymne in einer Zeit entstanden, als es einen einheitlichen deutschen Nationalstaat nicht gab. Hoffmann von Fallersleben schrieb das "Deutschlandlied" 1841, als das Land in Dutzende Kleinstaaten und Königreiche zergliedert war. Den Dichter inspirierte das auf Helgoland zu eben diesen Zeilen: "Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt." Wie viele Revolutionäre hoffte er, das Land endlich einigen zu können, und das "von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt". Forderungen das "Deutschlandlied" als Nationalhymne abzuschaffen und durch eine neue, "unbelastete" Hymne zu ersetzen, erteilt Ottomeyer eine klare Absage. "Bewahre!", sagt er, "wir brauchen diesen Neuanfang nicht." Und auch Hans-Ulrich Wehler meint: "Das ist völliger Schwachsinn. Man kann mit eingeschliffenen Symbolen nicht beliebig umgehen. Natürlich konnte man nach 1945 nicht das Hakenkreuz verwenden oder Schwarz-Weiß-Rot, die Reichsfahne der Nazis. Doch die dritte Strophe der Nationalhymne ist sehr akzeptabel, ein völlig unverfänglicher Text, genauso wie Schwarz-Rot-Gold eine honorige Farbe der 1848er Revolution ist." Belastet waren die Symbole nach 1945 dennoch. Zwar hatten die Nazis Schwarz-Rot-Gold 1935 durch Schwarz-Weiß-Rot ersetzt und die Hakenkreuzfahne zu ihrer Nationalflagge erkoren. Die Nationalhymne jedoch hatten sie als "großes Lied der Sehnsucht" missbraucht - gesungen wurden die erste und zweite Strophe zusammen mit dem Horst-Wessel-Lied.
In der DDR legten sich die Machthaber daher schon früh, nur einen Monat nach ihrer Gründung im Oktober 1949, mit "Auferstanden aus Ruinen" eine neue Hymne zu. In der Bundesrepublik dagegen stritten Bundeskanzler Konrad Adenauer und Bundespräsident Theodor Heuss drei Jahre über eine geeignete Hymne. Erst 1953 gab Heuss in einem Briefwechsel nach und erklärte die dritte Strophe des "Deutschlandliedes" zur Nationalhymne. Heuss hatte das Lied als Hymne des neuen, demokratischen Deutschlands unbedingt verhindern wollen und einen Dichter und einen Komponisten damit beauftragt, ein neues Lied zu verfassen. Seine "Hymne an Deutschland" wurde in der Neujahrsnacht 1951 erstmals im Radio gespielt, doch die Bürger ignorierten die Auftragskomposition. Sie hingen an ihrem alten "Deutschlandlied". Trotzdem sollte es noch mehr als 30 Jahre dauern, bis wenigstens 60 Prozent der Deutschen die dritte Strophe der Nationalhymne auswendig kannten, schreibt der Journalist Berndt Guben in seinem Buch "Schwarz Rot und Gold. Die Biografie einer Fahne". Auch die Hinwendung der Bürger zu den Farben der neuen Republik, erzählt er, sei mit einer Langsamkeit vonstatten gegangen, "die selbst Bismarck verwundert hätte, der Flaggenfragen stets dilatorisch behandelt hatte".
Erst im emotionalen und national aufgeladenen Wahlkampf von 1976 tauchte Schwarz-Rot-Gold plötzlich und nur für kurze Zeit auf Wahlplakaten und Aufklebern auf. Auf einmal sah man die deutsche Fahne auf deutschen Autohecks kleben, zusammen mit den Kürzeln der beiden Volksparteien SPD und CDU. Eine echte Zäsur aber waren erst die 80er-Jahre unter der Regierung Kohl: Boris Becker gewann zwei Mal in Folge Wimbledon und rannte mit der deutschen Fahne über den Tennisplatz.
Die öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten spielten nach Sendeschluss die Nationalhymne, dazu wehte Schwarz-Rot-Gold. Überdies titelte 1985 aufgeregt die Berliner "tageszeitung": "In den Ministerien wird geflaggt. Friedhelm Ost, der neue stramm-deutsche Pressesprecher, stellt seine Fahne zwischen Gummibaum und Zimmerlinde, Bundeskanzler Kohl hat das ganz persönliche Aquarium damit dekoriert." Tatsächlich hatte Kohl als erster deutscher Kanzler in seinem Arbeitszimmer eine Deutschlandfahne aufstellen lassen.
Nachdem zur Wende tausende DDR-Bürger mit schwarz-rot-goldenen Fahnen samt Loch in der Mitte - sie hatten Hammer und Zirkel einfach herausgeschnitten - über die Grenzen gelaufen waren, blieb die Fahne danach eingerollt - bis zur Fußball-WM 2006. Noch Monate später ist für viele unbegreiflich, was in diesen vier Wochen eigentlich mit den Deutschen geschah. "Zur Überraschung aller", sagt Hans-Ulrich Wehler, "konnte man feststellen, dass es in einem sehr naiven und entspannten Sinne möglich ist, sich mit nationalen Symbolen wie einer Fahne und einer Hymne auszudrücken. Das war ein echtes massenpsychologisches Phänomen und hatte mit einem bedrohlichen radikalen Nationalismus, wie manche befürchteten, rein gar nichts zu tun."
Hans Ottomeyer hofft, dass dieser entspannte Umgang auch Bestand haben wird: "Übermaß ist ja nie von Dauer", sagt er, "aber die Erfahrungen während der Weltmeisterschaft könnten wieder zu einer Normalität führen, wie sie andere Nationen auch kennen." Schließlich, meint der Historiker, brauche jede Nation Zeichen, "unter denen sie sich versammeln kann, um sich miteinander in Einklang zu setzen. So sind Menschen nun einmal."
Die Autorin ist freie Journalistin, Berlin.