Was ist eigentlich neu am "neuen Patriotismus" in Deutschland? Die beliebteste These lautet, es habe sich etwas entspannt im Verhältnis der Deutschen zu sich selbst. Mit Blick auf die fröhliche Flaggen-Folklore während der WM wird man da kaum widersprechen wollen. Der Genuss am "Partyotismus" auf den Straßen und Plätzen bestand gerade darin, dass man sich ungläubig selbst beim ausgelassenen Feiern beobachtete: Das kann doch nicht wahr sein, dass wir hier so fröhlich unsere Fahnen schwenken - und die ganze Welt, die Engländer eingeschlossen, findet nichts dabei.
Auch die einheimischen Intellektuellen wiegten diesmal nicht bedenklich den Kopf dazu, wie sie es früher taten. Nein, sie wollten endlich auch einmal dabei sein. Sie bekannten ihr "Deutschlandgefühl" (Reinhard Mohr), entdeckten die "Berliner Republik als Vaterland" (Eckhard Fuhr) und nicht weniger als "250 Gründe, unser Land heute zu lieben" (herausgegeben von Florian Langenscheidt).
An Stelle der viel beklagten Verzagtheit der vergangenen Jahre schien in diesem Sommer eigenartig übergangslos eine Art Ergriffenheit der deutschen Intellektuellen von sich selbst zu treten. So sehr man den Abschied von der ewigen schlechten Laune und von der Rhetorik der Selbstverdächtigung begrüßen mag: Vom alten Selbsthass zum neuen Biedermeier ist es offenbar nur ein kleiner Schritt.
War das schon alles? Eine neue Lockerheit, ein Nachlassen der alten vergangenheitspolitischen Verbiesterung, das behagliche Einrichten in der Normalität der Bundesrepublik? Das Problem mit der Entspannungsthese ist, dass sie unterstellt, am neuen Patriotismus sei wesentlich die gelassene Haltung neu, während sein Gegenstand im Prinzip gleich geblieben sei.
Das ist zu kurz gedacht. Man sollte den neuen Patriotismus besser als eine Selbstverständigungsdebatte mit offenem Ausgang verstehen, als eine Art Suchbewegung, die auf die vielfältigen Herausforderungen reagiert, denen das Selbstverständnis der Deutschen heute ausgesetzt ist.
Wenn heute über Patriotismus und Leitkultur debattiert wird, geht es um die Suche nach einem neuen Zusammenhalt in Zeiten, in denen es immer weniger selbstverständlich ist, was "Deutschsein" heute bedeutet. Wir debattieren deshalb so intensiv über Werte, über den Bildungskanon, über die Deutschpflicht an Schulen, über das Zusammenleben der Religionen, über das Abdriften der Unterschichten, weil kulturell, religiös, sozial, politisch, historisch und auch ethnisch immer weniger eindeutig festgelegt ist, was es heute eigentlich heißt, ein Deutscher zu sein.
Die negative Identifikation mit der NS-Vergangenheit wird Teil des Identitätskerns bleiben, aber ihre prägende Rolle nimmt ab. Wenn der Innenminister Wolfgang Schäuble jetzt fordert, die deutschen Muslime sollten sich mit den deutschen Verbrechen identifizieren, hat er zwar Recht. Denn jeder Bürger der Bundesrepublik muss sich in ein Verhältnis zu den Untaten setzen, die von Deutschen begangen wurden. Aber es ist auch klar, dass die gesellschaftliche Orientierungsleistung des Vergangenheitsbezugs damit immer weiter abnimmt.
Wie sich die Aufgabenstellung für die Intellektuellen verändert hat, einen zeitgenössischen Patriotismus zu denken, lässt sich sehr schön an den Deutschland-Texten zweier Dichter zeigen, zwischen denen mehr als 40 Jahre liegen. Sie stammen von Hans Magnus Enzensberger und Feridun Zaimoglu. Enzensberger stellt sich 1964 in "Die Zeit" die Frage "Bin ich ein Deutscher?" Seine Antwort besteht darin, "die Hinfälligkeit des Prinzips der Nationalität" wortreich zu beweisen: "Wer aus Deutschland kommt, für den ist dieses Erlöschen der Nationalität als einer gesellschaftsprägenden objektiven Kraft verhältnismäßig leicht sichtbar... Im Jahr 1945 ist uns diese Identität abhanden gekommen, und zwar so gründlich, dass man sich fragen muss, ob von einer deutschen Nation überhaupt noch die Rede sein kann." Man kann eine gewisse Genugtuung in diesen Worten hören. Es ist die Genugtuung eines Davongekommenen, wie sie auch Enzensbergers Büchner-Preisrede ein Jahr zuvor prägt: "Wir nämlich wissen kaum, was das heißen soll: Wir. (...) Wir gehören zwei Teilen eines Ganzen an, das nicht existiert; zwei Teilen, von denen jeder leugnet, Teil zu sein, und jeder auftritt im Namen des Ganzen und als wäre er ganz. (...) Wir sind nicht identisch mit einem dieser Staaten, mit keinem von ihnen können wir uns identifizieren."
Vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus und der Berliner Mauer sieht Hans Magnus Enzensberger nur die Möglichkeit, sich den Zumutungen der deutschen Identität zu entziehen. Der Dichter auf der Flucht vor Festlegungen - Enzensberger, der "fliegende Robert" der Nachkriegsliteratur, hat dies zu seinem eigenen Mythos gemacht. Auch darauf wollte er sich freilich nicht ewig festlegen lassen und geißelte 2000 im Kursbuch "das penetrante Nölen derer, die an ihrer deutschen Herkunft tragen, als handle es sich um ihren Hauptberuf... Ein bisschen mehr Patriotismus, nicht nur hie, sondern auch dort, ein Patriotismus im Plural könnte es den Deutschen leichter machen, mit sich und den anderen, mit ihnen, auszukommen."
Und damit kommen wir zu dem zweiten Dichter: Der türkischstämmige Kieler Schriftsteller Feridun Zaimoglu schrieb in "Die Zeit" vom 12. April 2006: "Tatsächlich kann man stolz sein auf die deutschen Verhältnisse. Die vermeintlichen multikulturellen Musterländer wie Holland und Frankreich sind abgebrannt. Wir alle haben eine gemeinsame Sprache. Ich will Türken in Massen sehen, die deutsche Fahnen schwenken. Das wäre keineswegs eine übersteigerte patriotische Geste." Das ist eine neue Stimme, die man so nicht erwartet hätte: Ein neuer Deutscher fordert Patriotismus von Einwanderern, die auf das deutsche Modell stolz sind, in dem sie es zu etwas gebracht haben. Zaimoglu ist damit nicht allein. Unter den deutschen Intellektuellen "mit Migrationshintergrund", wie man neudeutsch sagt, gibt es eine lebhafte Leitkultur-Debatte. Die Frauenrechtlerin Seyran Ates zum Beispiel plädiert "für einen Begriff der Leitkultur, der den Migranten eine Vorstellung von der Gesellschaft gibt, in die sie sich integrieren". Die "Orientierung auf eine Leitkultur", so Ates, "muss vor allem den zu integrierenden Jugendlichen etwas vermitteln, worauf sie stolz sein können", auch wenn "der Begriff Stolz aufgrund der deutschen Geschichte sehr problematisch bleibt".
Was diese Leitkultur, was das Deutschsein ausmacht, muss heute auch mit den neuen Deutschen verhandelt werden, die sich immer häufiger an der Debatte über einen "freiheitlichen Patriotismus" - so der Berliner Autor Zafer Senocak - beteiligen. Der neue deutsche Patriotismus kann sich heute weder im "Nie wieder" der Gedenkkultur noch im beschaulichen Stolz aufs Erreichte erschöpfen. Er ist ein zukunftsoffenes, unvollendetes Projekt.
Der Autor ist Redakteur im Hauptstadtbüro der Wochenzeitung "Die Zeit" in Berlin.